Wer den Wunsch, den C.R.C. zugunsten des Torhüters ausspricht, genau liest, wird feststellen, daß C.R.C. dabei vielerlei Emotionen zum Opfer fällt. Er möchte Dankbarkeit zeigen, weil er meint, daß solch eine Tugend seinem Orden Ehre machen würde. Dankbarkeit ist an diesem siebenten Tag - im Augenblick der Wahl - wirklich die schwierigste Tugend.
Dankbarkeit, wenn es um das Opfer des eigenen Selbstes geht, kann nur der Kandidat bezeigen, der den "Sprung ins Nichts" wagt und keine einzige Bindung an die Arroganz des Ego mehr besitzt. Auf dem Grunde dieses Gefühls lebt jedoch immer noch die schwache Hoffnung des Ich, daß allein schon durch den Wunsch die große Umwandlung möglicherweise geschehen könne.
Als dann das Schicksal seinen Lauf nimmt und C.R.C. - um zu Ehren seines Ordens eine Tugend zu zeigen - in der Aufrichtigkeit seiner Seele spricht, wodurch er die Gefahr für das Ego vergißt und sich selbst als Stellvertreter anbietet, wird die Umwandlung eine Tatsache. Jede Überlegung noch kurz vor dem Abschluß wird von der Seelenkraft völlig hinweggefegt, wodurch die letzten Reste des Ego verascht werden. Das geschieht sozusagen "außerhalb des Kandidaten".
Die einzige Anstrengung ist der "Wunsch", der trotz des Verlangens nach einer anderen Tugend dennoch Aufrichtigkeit, "Dankbarkeit" über alles stellt. In diesem Augenblick setzt der Kandidat seinen Fuß auf den Weg nach oben. Seine Seelenkraft zieht ihn mit sich, kommt ihm "zwei Schritte entgegen", wie es von der Christuskraft heißt.
In der Situation von C.R.C. steht sein Ego "mit dem Rücken gegen die Wand", was man auch von jedem Kandidaten auf dem achtfachen Pfad sagen kann. Er sieht keinen Ausweg mehr und geht darum vorwärts. Er wird gezwungen, weiterzugehen.
Der König hofft, daß C.R.C. bald wieder heimkommen könne, "doch wird dies nicht vor der Hochzeit meines zukünftigen Sohnes geschehen können". Hierin ist wieder der Hinweis auf die Seelenkette enthalten. Jeder Torhüter muß auf den Königssohn warten, der durch die Pforte geht.
Auch hier finden wir wieder die treffende Vermischung von Seelenreaktionen und Überlegungen des Ego: "Dieses Urteil hat mich beinahe das Leben gekostet, wie dumm war ich doch!" Unmittelbar darauf fährt C.R.C. fort, weiter über seine "Sünde" zu berichten. Vom Standpunkt des Ego aus gesehen, setzt er also seinen Weg fort, dessen Bloßlegung er als Ego bedauert.
Man steht hier vor der Veraschung des Bleies und den Erfahrungen in der Sterbestunde. Wenn der Kandidat in das Feuer gegangen ist, kann er nichts anderes mehr tun, als sich diesem zu überlassen; denn das Feuer ist übermächtig und verbrennt die letzten Reste des Ego.
Nach allen Erfahrungen, die diesem Prozeß vorangehen, ist die Verwirklichung der Umwandlung des Bleies eigentlich sehr einfach. Es gibt keine Geheimnisse mehr, keinen heftigen Streit, nur die letzte Auflehnung, die jedoch von der Beherrschung durch die Seele, die den Kandidaten vorantreibt, vollkommen überwunden wird.
Das Ego meint: "Dieses Urteil kostet mich das Leben, und alles, was ich erreicht habe, war nutzlos."
Trotzdem findet die Feuertaufe statt. Notgedrungen werden die Seele und das Ego, C.R.C. und der alte Saturn, in dasselbe Feuer gestellt. "Darin sterbe ich", denkt der alte Mensch, und ihm ist traurig zumute.
Der Alchimist beschreibt deutlich, wie eindrucksvoll die äußeren alchimischen Erfahrungen am geistigen Auge des Kandidaten vorüberziehen, wieviel Freude in seinem alten Denken herrscht, so viel Kenntnis gesammelt und so viel Schönes gesehen zu haben. Das Amt des Torhüters ist und bleibt ein minderwertiges Amt, und er hofft, auf irgendeine Weise noch davon befreit zu werden, obwohl sich sein inneres Wesen bereits mit der künftigen Arbeit einverstanden erklärt hat.
Das zeitliche Denken ist nicht imstande, sich in die Aufgabe des Torhüters "hineinzudenken", und spielt weiter mit der Vorstellung, zur Strafe Torhüter sein zu müssen. Es sieht nicht den Glanz hinter der Pforte und ermißt auch nicht die Größe des "Opfers", zu dem es sich durch das Drängen der Seele hat verleiten lassen.
"Dies war denn also der letzte und ärgste Schlag, den ich erleiden mußte." Weiter die Vorstellung, "notgedrungen leiden zu müssen", der Gegensatz zwischen dem "ich bin" und "ich zerfalle zu nichts"!
Das Erlangen von Kenntnis, Einsicht und Wahrheit kostet Anstrengung, Opfer und Mühen. Aber der allergrößte Schlag trifft den Kandidaten, den Ichmenschen, wenn er plötzlich begreift, daß sogar seine Leiden, Anstrengungen und Mühen zu "Nichts" werden!
Das sind Gedankenfetzen, die den Menschen durchziehen, wenn sein "Ich" stirbt. Die zwei: Saturn und die Seele, gleiten bereits ineinander über; das alte Denken verebbt langsam. Das Individuum wird durch die Einwirkungen des Seelenfeuers geboren; denn, wie C.R.C. sagt, hat er niemanden, der ihm den Weg weist. Er ist vollkommen allein, hat nur den Ring seines Vorgängers am Finger.
Ihm ist der Ring des Saturn übergeben worden, der mächtige, beschirmende Ring des: "bis hierher und nicht weiter!", der Ring seiner Würde als Beherrscher der zodiakalen Begrenzung. Nichts anderes als diesen "Ring" besitzt er, was zugleich bedeutet, daß er "alles" besitzt.
Niemand besitzt diesen Ring als derjenige, der den zodiakalen Ring beherrscht und das Zeichen seiner Überwindung an der Hand trägt: Mit diesem Ring an seiner Hand ist C.R.C. der individuelle Überwinder, das absolut autonome Individuum geworden, das in sich allein, einsam ist, das aber ein Glied in der mächtigen universellen Kette bildet, in der die Königssöhne einander ablösen, einander beistehen, einander leiten auf der "Reise durch die sieben Tage".
Als dann der König der Notordnungswelt Abschied nimmt von C.R.C., der entstiegenen Seele, die selbständig geworden und kein Untertan eines vermittelnden Reiches mehr ist, hat C.R.C. die Grenze überschritten. So gleitet der siebente Tag an C.R.C. vorüber mit dem Bild des jungen Königs, der ein Mittler der Seele war, und all den Bildern der anderen Gestalten, die dazu beigetragen haben, daß die Seele ihren Weg durch die Notordnung oder das Chaos gefunden hat.
Bei C.R.C. bleiben nur zwei Wesenheiten, die mit ihm einschlafen: Atlas und der Alte. Die Verbindung zwischen dem Körper, der erfahrenen Seele und dem Geist kommt in dem Augenblick zustande, da der Kandidat an der Grenze der vollkommenen Übergabe steht: Er begibt sich zur Ruhe. Das ist das Ende allen Widerstandes: Atlas, die zeitliche Welt, der durch seine Erfahrungen weise geworden ist; der Alte, der Erfahrungsbewußte, der auf dem Lebensweg durch die sieben Tage bei C.R.C. gewesen ist; und die Lichtseele selbst, die mit beiden zur Harmonie der Einheit verschmilzt.
Zuvor war das Blei geschmolzen: Der Ring am Finger ist das Zeichen der Besiegelung des Dreibundes. Jetzt ist C.R.C. wirklich nach Hause gekommen, was sein Ego nicht ahnen noch wissen kann: Das verschmähte Amt des Torhüters wird sich als ein Erwachen in der vollen Glorie des Lichtlandes erweisen.
Einige Interpreten der Chymischen Hochzeit sehen diesen siebenten Tag als eine große Sündenvergebung an, wobei sie der Meinung sind, daß C.R.C. die Aufgabe des Torhüters nicht auf sich zu nehmen braucht. Das ist die begrenzte Auffassung des Ego, das mit der "Vergebung" liebäugelt und das Amt des Torhüters verkennt.
Im alchimischen Prozeß gibt es keine "Vergebung", sondern nur Veraschung und Auflösung von Saturn, dem Blei, wonach die Seele heimkehrt. Eindeutig ist zu lesen, daß C.R.C. den Saturn dadurch erlöst, daß er sich selbst an dessen Platz stellen will, besser ausgedrückt: von der Seele dazu gezwungen wird, sich an dessen Platz zu stellen. In diesem selben Augenblick ist der Prozeß vollendet. Innerhalb des Ringes oder der Begrenzung der zodiakalen Welt folgt darauf nichts mehr, weil alle weiteren Erfahrungen außerhalb des Begriffsvermögens des Ego liegen.
Der Platz des Torhüters am Hof des Königs kann nicht unbesetzt bleiben, sondern muß immer von einem "Auserkorenen" eingenommen sein, der alle Kräfte des zodiakalen Ringes beherrscht.
Die Wache von Saturn muß in den Händen dessen sein, der die ursprüngliche Natur besitzt und dadurch in der Lage ist, die "zeitliche Natur" innerhalb dieses Saturnringes gegen das mächtige, alles verbrennende Licht zu beschirmen. Medizinisch gesehen, kann auch nur das Blei von Saturn den Menschen gegen die unirdischen Strahlen der Mysterienplaneten schützen.
Wenn es in der Absicht der Erzählung läge, daß C.R.C. die Stelle des Torhüters nicht einzunehmen brauchte, obwohl der Torhüter bereits befreit ist, "da es unmöglich ist, sich über die alten Bräuche hinwegzusetzen", gäbe es also in diesem Augenblick keinen Torhüter.
Wer auf diese Weise den Text auslegt, kennt die Alchimie nicht.
Denn dann würde entweder die Pforte geschlossen bleiben und es könnte kein Licht mehr durchströmen, oder die Pforte würde unkontrolliert weit geöffnet mit allen damit verbundenen nachteiligen Folgen, wie wir sie in vielen okkulten Experimenten feststellen können, bei welchen körperliche Mißbildungen nicht selten die Folge sind.
Würde der Kandidat bzw. C.R.C. nicht untergehen, nicht umgewandelt werden, dann brauchte er doch vom König keinen Abschied zu nehmen; denn er würde ihm bestimmt an dem einen oder anderen Tag wiederum begegnen.
Der Torhüter wird zu Tisch geladen; er wird in den Bruderkreis aufgenommen und ist am Ende der Erzählung "frei", wegzugehen, frei, sich zu entfernen, sich aufzulösen in Staub, so wie der alte Körper sich auflöst. Sogar die hinzugefügten Worte: "und ist derjenige, der vermeinte, er müsse am Morgen Torhüter sein, heimgekommen", sind Weisheit für den Alchimisten, aber ein Widerspruch für den Unwissenden.
Torhüter-werden ist nämlich dasselbe wie Heimkommen: Es ist die Apotheose der Gegensätze, die eins werden.
Es liegt darin der befremdende Gegensatz der Alchimie: der niedere Saturn und die reine Seele, die heimkehren. Hierauf paßt die ganze alchimische Bildersprache, der man in Aussprüchen zwischen Saturn und dem Alchimisten begegnet: "Ich bin der Niedrigste, obwohl ich der Höchste bin" und "Ich bin das niedrigste Metall, obwohl ich das reichste bin."
Es ist vielleicht verständlich, wenn der strebende Mensch den Gedanken der "Gnade" in diesen letzten Zeilen wiederzufinden meint. "Gnade" ist für den dogmatischen, innerhalb der zodiakalen Begrenzung denkenden Menschen immer eine "Sündenvergebung". "Jesus starb für unsere Sünden", heißt es dann.
Für den Alchimisten bedeutet "Gnade" die Möglichkeit der Erlösung der Seele durch die zeitliche Natur. Die erste Deutung der Gnade ist eine Form sekundärer Hilfe, in Unselbständigkeit. Die zweite Form der Gnade ist eine autonome, alchimische Arbeit, das "Große Werk".
Der dogmatische Christ akzeptiert letztere Form der Gnade nicht, doch ist sie wohl die Basis für die gnostische Auffassung. Das Empfangen der erstgenannten Gnade ist der Weg des geringsten Widerstandes, der bequeme Weg, auf dem ein autoritäres Wesen, ein autoritärer Gemeinschaftskörper, z.B. eine Kirche, den Kandidaten innerhalb seiner Beschirmung festhält. Das Zuteilwerden der zweiten Gnade ist keine Tatsache, die bereits geschehen ist, sondern eine Möglichkeit, die verwirklicht werden muß.
Gnade ist als Urkraft gegenwärtig, aber der Kandidat muß diese Urkraft erwecken. In dieser zeitlichen Natur ist die Gnade als eine Hilfe des Himmels vorhanden, aber sie kann nur dadurch aktiviert werden, daß der Kandidat die Vibration des Himmels anwendet. Die Vibrationen der zeitlichen Natur kennen prinzipiell nur eine "zeitliche" Gnade, die von Menschen geschenkt wird und darum niemals auf die Dauer segensreich sein kann.
Ebenso ist es mit der "Sündenvergebung". Der zeitlichen Natur braucht nichts vergeben zu werden: Sie ist so, wie sie geschaffen wurde, nämlich zweipolig. Die Seele jedoch empfängt erst dann Vergebung, wenn sie heimgekommen ist. Im Zusammenhang damit ist es gut, die biblische Erzählung vom "verlorenen Sohn" einmal nachzulesen (Luk. 15, 11-32).
In dem Buch von Andreae wird nicht näher berichtet, daß C.R.C. tatsächlich an der Pforte steht, weil dies mit der Umwandlung von Saturn in Christus oder das Gold zusammenhängt. Diese Umwandlung kann nicht mehr aufgezeichnet werden; denn sie übersteigt das Begriffsvermögen des Ego und bildet die Krönung der alchimischen Arbeit. In der Bibel wird sie als "Himmelfahrt" dargestellt (Henoch, Elias, Jesus).
Der alchimische Prozeß endet immer mit der Umwandlung des "Unten" in das "Oben", auch als das Durchschreiten der Pforte symbolisiert. Die große Gnade, die der Alchimist kennt, liegt im Austausch von Saturn gegen C.R.C. Zu dieser allumfassenden Einsicht kommt der Kandidat jedoch erst, wenn er umgewandelt ist.
Alles, was der Kandidat bis zu jenem Augenblick versteht, ist mit den Kräften der alten Persönlichkeit vermischt; bis zur Umwandlung geht Satanael mit und ist seine Aktivität zu spüren.
So wie das Buch von Andreae bezeichnenderweise im - für das Ego - Luftleeren endet, so endet der alchimische Prozcß für das Ego ebenfalls im unerreichbaren Nichts.
Möge die alchimische Begegnung der Gegensätze den spirituellen Menschen zu der Einheit führen, in der sich das Höchste mit dem Niedrigsten verbindet, damit auf diese Weise die Gnade wirksam bleibt.