Die Hoffnung

"Der Mensch soll nicht dafür sorgen, daß er in den Himmel kommt, sondern daß der Himmel zu ihm kommt!" 

Diese Worte charakterisieren das Ziel des Menschen und sagen gleichzeitig aus, daß der Mensch selbst dafür verantwortlich ist, ob in ihm Himmel oder Hölle ist. Er muß ja selbst dafür sorgen, daß der Himmel als eine Wirklichkeit zu ihm kommt. 

Wie er das kann? 

Durch den Glauben, der mit der Hoffnung eins wird, so daß sich beide in der Liebe beweisen, dem sichtbaren Eros (6), der verkörperten Äther- oder Geistkraft. Der Himmel muß erobert werden, während die Hölle uns entgegenkommt - eine Erfahrung, die sehr viele Menschen machen. Sie öffnen der Hölle ihre inneren Pforten, sind aber zu bequem, um den Himmel zu erobern. 

Der Vogel muß seine Flügel ausbreiten und dem Himmel mit eigener Kraft entgegenfliegen; der Mensch muß die Flügel seines Glaubens ausbreiten und in der Kraft der Hoffnung zum Himmel aufsteigen, der in ihm ist. Die Hoffnung ist der wartende Schoß, in den der Glaube seinen Samen sät; die Hoheperiesterin, die zweite Karte des Hermetischen Tarot, hüllt den Magier oder den spirituell gläubigen Menschen in ein Feld geistiger Imaginationskraft. 

So erstehen Bilder in ihm, für die äußeren Sinnesorgane unsichtbar, die ihn an sich ziehen. Er geht vollständig in diesen Glaubensbildern auf. Er wird ein Zeichner, der seinen Stift entsprechend seinen Glaubensmöglichkeiten hantiert und dadurch abstrakte, edle Bilder, Ideen und Ideale formt - oder er bildet sich menschliche Abgötter, irdische Materialisationen. 

Eine Religion, die ihren Bekennern mit Heiligenbildern, Götzen und sichtbaren Darstellungen zu Hilfe kommt, unterschätzt den Glauben ihrer Anhänger oder mißtraut ihm. Sie füllt den kleinen Glauben auf, entzieht ihm aber dadurch die Kraft, um die Hoffnung oder die Hohepriesterin zu sich zu rufen, die dem Glauben in das Land der geistigen Imagination vorangeht. Geistige Imagination ist eine Manifestation des außerzerebralen Denkens und beginnt im Herzen. 

Herz und Haupt zusammen erschaffen eine reine Phantasie, ein unbegrenztes Denken. 

Je stärker der Mensch glaubt, ganz gleich woran, desto wirklicher werden diese Bilder sein und desto schneller werden sie sich in der Materie erkennbar machen. So wie Glaube und Wille im gläubigen Menschen zusammenschmelzen, so schmelzen ebenfalls Hoffnung und Wille zusammen; denn der Wille ist überall anwesend. Er ist nicht beherrschend, wohl aber lebenschenkend . Der Glaube ist ein wartendes Feuer, wie es der Magier darstellt; der Wille kann es auflodern lassen. Die Phantasie ist ein klares Wasser; der Wille kann es erwärmen und ihm Leben schenken. Sobald Glaube und Hoffnung mit dem Willen als Lebensessenz verschmelzen, kommt eine Tat zustande. Ohne den Willen geschieht nichts. Ohne daß Glaube und Hoffnung sich durch den gemeinsamen Willen verbinden, bleiben sie voneinander geschieden und erzeugen keine Frucht: die Liebe. 

Der Volksmund sagt so treffend: "Hoffnung läßt leben!" 

Damit wird gesagt, daß die Hohepriesterin als die Phantasie des Menschen DAS Leben bringt. Sie behütet den Samen des Glaubens; die Phantasie erwärmt ihn. Die Hoffnung umringt den Glauben mit zärtlichen Bildern, freudigen Erlebnissen. 

Ein gläubiger Mensch - gläubig nicht mit dogmatisch zu verwechseln - wie der Magier des Tarot besitzt eine starke, aber beherrschte Willenskraft, die er seinem Glauben übertragen und im Schoß der Hoffnung zur Ruhe betten kann. Man kann immer wieder beobachten, daß die Hoffnung Menschenmassen beseelen kann, daß eine Injektion "Hoffnung" die Menschen aus ihrer Lethargie, ihrer Verzweiflung und Ziellosigkeit erweckt. 

Zunächst glauben solche Menschen an den Glauben ihres Beseelers, dann ziehen sie sich an seiner Vorstellungskraft hoch und erwärmen sich schließlich an seiner Liebe. 

So wird von einem oder auch vielen Führern mit der Menschheit gespielt. Wenn ein Meister oder eine Autorität zuläßt, daß ihre Anhänger ihren Glauben und ihre Hoffnung verlieren, dann verstehen die Betreffenden ihre Aufgabe nicht. 

Der Nachteil dabei besteht jedoch darin, daß beim Wegfall des Meisters Glaube und Hoffnung seiner Anhänger ebenso schwinden oder zu Imitationen werden, zu toten Begriffen, die keine geistigen Früchte hervorbringen. Die Hohepriesterin erkennt die Qualität des Magiers, durchschaut die Art seines Glaubens und wird entweder zu einer "Päpstin" (7) oder zeigt sich als die wahre Hohepriesterin. Die Päpstin aus dem mittelalterlichen Tarot, die Imitationshoffnung (10), die an imitierte Vorstellungen, äußere Formen und dogmatische Gesetze gekettet ist, schenkt dem Menschen Formenreligion, Pflichterfüllung und Stillstand innerhalb des Gesetzes der Natur. 

Niemand kann seine fundamentale Lebensbasis aus Glaube, Hoffnung und Liebe verlassen. Sie bildet den Grund, auf dem er sich abgrenzt, und entscheidet über seine folgenden Schritte. 

Der Glaube und die Imagination, der Magier und die Hohepriesterin, müssen in ihren geistigen Intentionen zusammengehen; Uneinigkeit zwischen Glaube und Imagination erzeugt im Menschen Disharmonie, Widerspruch, Unlustgefühle und vor allem Schuldbewußtsein. Dieses Schuldbewußtsein kann auch der Psychiater nicht wegreden, sondern überdeckt es oder lenkt es ab. 

Der Mensch kann der Meinung sein, er glaube an eine Religion, obwohl seine Phantasie ihm vielerlei unreligiöse Bilder vorspiegelt. Dann gibt es Widerspruch in ihm; er terrorisiert sich selbst und seine Phantasie, die Hohepriesterin, durch den Fanatismus seines Glaubens, der anstelle des edlen Magiers nach dem mittelalterlichen Tarot zu einem Gaukler oder Zauberer (7) geworden ist. Es lassen sich vor allem bei forciert Gläubigen zahlreiche Beispiele dafür anführen. 

Dann ist man ein Gläubiger für die Außenwelt, aber nur zu oft ein Wollüstling in seinen Gedanken; die Hoffnung drückt sich vollständig in niedrigen Vorstellungen aus. Die Päpstin der zweiten Karte des mittelalterlichen Tarot kennt keine individuellen, edlen Vorstellungen; ihr Buch ist geöffnet (7), aber sie liest nicht darin; ihre Krone ist geschlossen. Das Buch der Natur steht für diesen Menschen offen, aber er sieht es nicht, weshalb er die Grenze zwischen Natur und Geist nicht überschreitet. 

Die niedrige Hoffnung bedeutet für solch einen Menschen: Leben. 

Sonst hielte er es in der engen Ummauerung seines Glaubens nicht aus. Der instinktive Glaube kann keine andere Hoffnung oder Phantasie herbeirufen als die wollüstige, egozentrische und materialistisch ausgerichtete. Man sagt dann wohl, daß solche Menschen gespalten seien. Nichts ist jedoch weniger wahr! Sie sind eine gute Einheit von Glaube und Hoffnung; nur erkennt die Außenwelt die Art ihres Glaubens nicht. 

Auch in den Kreisen der Esoteriker wimmelt es von solchen Menschen. Ihr instinktiver Glaube wird meist nicht einmal durch strenge Normen und Gesetze gebunden, wodurch jene unreine okkult-mystische Glaubenswollust entsteht, die eine Sphäre übelriechender Schwüle schafft. 

Im Deutschen sagt man dann wohl: "Es riecht nach Mäusen....." 

Glaube und Hoffnung dieser Art bringen auch eine Frucht hervor: die religiöse Sexualität, an der sich zahlreiche Gewinnsüchtige materiell befriedigen. Diese unheilige Verbindung zweier instinktiven Gaben des Menschen führt ihn zu allerlei Formen von Bestialität, Nutznießerei und Raserei. Ein Wahnsinniger glaubt zum Beispiel an einen Napoleon als Vorbild und beträgt sich entsprechend; der instinktiv Gläubige glaubt an das Bild, das ihm ausgemalt wurde, und hofft auf seine Belohnung. 

Gibt es jemanden, der leugnet, daß wir als Gesamtheit der Menschen der krankhaften Glaubenssucht und schmutzigen Phantasie einer Gruppe führender Mächte ausgeliefert sind? 

Daß deren Früchte aus Glaube und Hoffnung die Welt bevölkern und der einzelne reine Gnostiker oder Esoteriker gezwungen ist, mitten unter ihnen zu leben? 

Wie kann ein Mensch rein und spirituell ausgerichtet bleiben, wenn solche Produkte ihn von allen Seiten umringen, und zwar sowohl in der Äthersphäre als auch in den sichtbaren Gebieten? 

Wo kann dieser Mensch an seiner Hoffnung bauen, wo bereitet er jenes hohepriesterliche Feld, den reinen Schoß, in dem allein der Keim wachsen kann? 

Arbeitet er daran einmal pro Woche, einmal pro Tag oder nur in der gemeinsamen Arbeitszeit mit seinen Geistesverwandten? 

Wo ist die Hohepriesterin, die ihn in das Geheimnis der Vereinigung von Magier und Hohepriesterin, von Glaube und Imagination oder Hoffnung einweihen kann? 

Hat der Mensch überhaupt noch Hoffnung? 

Hoffnung auf eine bessere Zukunft? 

Hoffnung auf spirituelle Bewußtwerdung? 

Hoffnung auf eine Seelenauferstehung? 

Ist es nicht seltsam, daß gerade unsere so sehr wissenschaftlich gefärbte Zeit, in der die Materie das Szepter schwingt, die Phantasie Tausender in Ekstase bringt? 

Eine künstlich von Magiern erzeugte Phantasie! Die Hoffnung auf Jesus, den Revolutionär! Die Hoffnung auf einen Meister, eine Hoffnung im Joga, Hoffnung in der Meditation und Isolierung! 

Die ihres Glaubens beraubten Menschen, innerlich zerstört durch den instinktiven sklavischen Glauben, strömen zu einem Bild, das ihnen vorgegaukelt wird, zu einer Vorstellung, die aufgebaut wird von einem Magier, einem gläubigen Menschen, sei er nun instinktiv oder spirituell gläubig. Sein Fundament dient vielen als Ruheplatz, aber es führt nicht zu einer inneren Entwicklung, zur Entfaltung des individuellen Magiers und der individuellen Hohepriesterin! 

Die meisten religiösen Bewegungen, ganz gleich ob esoterisch oder kirchlich, haben sich totgelaufen, weil die Hoffnung, die Imagination, an ihnen vorüberging, weil die Drei-Einheit von Glaube, Hoffnung und Liebe nicht verwirklicht wurde. 

Geben Sie dem Menschen Bilder, geschnitzte oder auch abstrakte, und er wird davor niederknien. Geben Sie dem Menschen Hoffnung! Sowohl die erfahrenen religiösen Führer als auch die Psychologen, die Wissenschaft und die Umweltfanatiker reichen dem Menschen Hoffnungsfunken, und wo der Mensch die meiste Hoffnung findet, dahin wendet sich sein Herz. 

Der Glaube ohne die Werke ist tot (Jak. 2,17), aber um Werke tun zu können, ist Hoffnung notwendig, weil das Werk ein Erzeugnis, eine Frucht ist. Hoffnung aber ohne Glauben ist vergeblich; dann wird daraus unbegründeter Optimismus, und man phantasiert. 

Jeder Gnostiker muß von ganzem Herzen bekennen können: Ich glaube an die Kraft meiner Seele; ich glaube an die Vorstellungen meines Geistes! 

Sobald einer sagt: Ich glaube an Gott, muß sich neben diesen Worten die Hoffnung auf geistige Erlösung und Erfolg erheben; denn Gott ist allmächtig. 

Sobald der Mensch sagt: "Ich glaube.....", baut er an der Hoffnung. 

Wiederholen Sie nur einmal konzentriert diese beiden Worte! Dann spüren Sie, wie magisch sie sind. Selbst ohne sich eine Vorstellung zu machen, nur bereits durch die Worte: "Ich glaube....." steigen Bilder auf. 

Darum kann jeder ein Magier sein, wenn er sich dazu die Ruhe und die Zeit gönnt. Viel Zeit wird mit törichten Dingen, mit unnützen Kindereien und durch Unwissenheit vertan. In einem einzigen Augenblick dieser verlorenen Zeit hätte der Mensch aus sich einen Magier machen können - im Dienste an sich selbst und an anderen. 

Wer sich selbst zerstört - und wie viele Menschen tun das! -, tut das auch auf magische Weise. Wie viele sagen sich täglich oder denken es: "Ich tauge zu nichts, ich bin dumm, ich bin nicht würdig....." Solche Worte rufen Bilder auf, unbewußte Hoffnung auf Rettung trotz allem, manchmal aber auch auf Vernichtung. 

Andere reden sich täglich ein, daß sie doch fabelhaft seien, mächtig gut und unüberwindlich. Auch das ruft Bilder auf, manchmal seelenerniedrigende, manchmal stark naturbindende Bilder, die dem Wesen nach auch seelenzerstörend sein können. Aber in beiden Fällen bedeutet die aufgerufene Hoffnung Tod oder Leben. 

Ihre Phantasie kommt in Berührung mit einem geistigen oder einem natürlichen Atemfeld. 

Im natürlichen Atemfeld leben Bilder zweierlei Art: gute und böse, wie auch die ganze Natur zweipolig ist. Als "böse" betrachten wir hier die Vorstellungen, die dem Menschen seine Lebenskraft nehmen, also solche von Lebensmüdigkeit, Untergang, Krankheit. Mit der gleichen Kraft kann ein solcher Mensch die anderen Bilder aufrufen: genesende, aufmunternde, lebenschenkende. 

Doch alle diese Vorstellungen haben nichts mit DER Imagination der Hohepriesterin zu tun, die aus einem edlen, magischen Glauben erwächst. Die ersteren beweisen nur die Magie des Glaubens an sich. Ein Mensch, der die ihm vorgespiegelten Angstvorstellungen nicht glaubt, kennt auch nicht die Angst davor. Der Glaube ist der magische Kontakt für jede Verwirklichung, also auch für die Verwirklichung der alchemischen Umwandlung von Blei in Gold, die vielleicht viele weit weg wähnen! 

Durch Unwissenheit kann der Mensch verloren gehen, das stimmt! Dabei geht es um die Unwissenheit über seine eigenen angeborenen Fähigkeiten, seine mächtigen, vernichtenden oder auch lebenschenkenden Kapazitäten, seine unvorstellbare Magie, die aus der "kleinen Kraft" kommt, jenem winzigen Samenkorn eines unumstößlichen Glaubens an den Geist, nicht an den einsuggerierten Imitationsgeist (10) oder ein Götzenbild, nicht an eine Organisation, einen Meister, eine Autorität. Solch ein Glaube ist Selbstbetrug und bringt früher oder später Enttäuschung. Auch die Hoffnung oder die Vorstellung, die damit verbunden ist, bringt Enttäuschung. 

Glauben Sie darum niemals an Menschen, wohl aber an DEN Menschen, die magische Kraft des Menschen vom sechsten Tag - dem Tag, an dem Gott ihn erschuf, dem Tag der Entscheidung, der sechsten Karte des Hermetischen Tarot oder dem Tag der Kreuzigung! 

Verstehen Sie es doch endlich, kleingläubiger Mensch! Sie sind allmächtig! Sie sind entweder Teufel oder Gottessohn! 

Aber hüten Sie sich davor, weder kalt noch heiß zu sein (Offb. 3,15-16), hin und hereilend, gefangen zwischen einem Scheinglauben und verwirrenden Vorstellungen daraus. 

"Gott ist gut! Er rettet mich!" ruft solch ein Mensch dann aus. Das stimmt, doch nicht unbedingt in diesem Leben! Man muß doch auch diesen Gott erst kennen, an Ihn glauben, bevor man erwarten kann, daß Er sich um einen solchen Kleingläubigen kümmert. 

Natürlich ist der Mensch in der Hand Gottes, wie schon der Sepher Jesirah (11) sagt: "Er ist gebunden in Je-Ho-Vah, der Teufel wie auch Gott sein kann." 

Und der Mensch ist dessen Ebenbild! Nur die Seele wurde erschaffen aus "Seinem Geist und dem Wind", womit der Äther gemeint ist. (12) 

Glaube und Hoffnung müssen eins werden; vor allem der Esoteriker und alle, die einen autonomen Weg der Selbstverwirklichung gehen wollen, müssen dies begreifen - ganz besonders diese, weil sie nur allzuoft ihren Glauben verlieren und keine Hand finden, die die ihre ergreift! Hat überhaupt der Magier eine andere Hand nötig? Doch wohl nicht. Er wartet nur auf den Schoß, in den er seine Kraft verschenken kann; er wartet, bis die Hohepriesterin, die Hoffnung, ihn umfaßt. Dann legt er die ganze Kraft seines geistigen Glaubens hinein, wodurch er die Beseelung erfährt. Er wird die Ekstase spüren, welcher entscheidende Augenblick die Qualität der Frucht bestimmt. Diese Ekstase, die Verzückung der Seele oder die Wollust der Sinne, kann wie eine religiöse Verklärung oder eine materielle Befriedigung sein. Der Charakter der Ekstase entscheidet über die Qualität der Frucht. Das ist im Geistigen genauso wie im Materiellen. 

Seien Sie also gewarnt, suchender Mensch: Sie sind ein Magier! Unterschätzen Sie sich nicht! 

Speien Sie aus, was in Ihnen lau ist (Offb. 3,16), und suchen Sie eifrig nach dem Keim des Magiers, der in Sie gelegt wurde am sechsten Tage, dem Tage, an dem der Geist Seinen Menschen erschuf!

©1970-2013 Henk und Mia Leene