Die Liebe

So steht nun also der Kandidat wirklich auf dem Einweihungspfad: Er ist fundiert in seinem Glauben, seine Stirn wird von der Hoffnung umstrahlt, was keineswegs ein abstraktes Bild ist, sondern eine Wirklichkeit für den suchenden Pilger. 

Wenn die Hoffnung noch nicht aus ihm strahlt, hat der Einweihungsweg für ihn noch nicht begonnen - begonnen im Sinne des Lernens; denn die Praxis fängt erst an, nachdem aus Glaube und Hoffnung die Liebe geboren wurde: für die Menschheit ein verstümmelter Begriff, ein mißbrauchter Ausdruck, aber ein Wunder im Geistigen, das der irdische Mensch kaum kennt. 

Diese Liebe als das Kind aus Glaube und Hoffnung wird auf der Tarotkarte Nr. 3 als eine Herrscherin dargestellt, die Führerin durch die Natur, die Beherrscherin der zodiakalen Welt. 

Die Liebe als Herrscherin entscheidet auch, was aus dem Menschen wird, der sie austrägt: ein Verführer oder ein Führer für sich selbst und seine Mitmenschen. Diese Herrscherin des Tarot wird im allgemeinen als Venus angesehen, die Königin der Liebe, die auf der Tarotkarte eine Krone aus zwölf Sternen trägt. Sie ist die unbestrittene Königin im Reich der Natur. 

Gibt es einen Menschen, der ihr noch nicht begegnet ist? 

Sei es nun in ihrer reinen Form als das Kind aus Glaube und Hoffnung, sei es in ihrer irreführenden Form als das Kind des instinktiven Glaubens und der kranken Phantasie: die sinnliche Wollust, die der Mensch "Liebe" nennt! 

Alles, was der Mensch sichtbar verwirklicht, trägt den Stempel dieser Liebe, der Venus. Jeder Mensch liebt irgend etwas, gibt seine Liebe jemandem oder etwas. Wiederum ist es die Qualität der Liebe, die das Resultat bestimmt. In der Spiritualität ist es die Liebe, die Frucht aus Glaube und Hoffnung, die die Erde als die Natur aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde zum Leben erweckt, wodurch sich die Sphäre bildet, in welcher der gefallene Lichtsohn wohnt und sich ausdrückt. 

Sie bestimmt die Realität unserer Umgebung und ebenso den wirklichen Zustand unseres Mikrokosmos. 

Diese Liebe ist dasselbe wie der platonische Eros (6): ein Lebensschenker, ein Erzeuger, ein Beschirmer und ein Führer. Die Herrscherin als die Liebe kann alles für den suchenden Pilger, für den Fremdling auf Erden sein. Aber er kennt diese Herrscherin aus dem Tarot nicht; er kennt nur Isebel (Offb. 2,20), die Prostituierte seines Herzens, die Kaiserin des kleinen Sinnenglücks, wie sie der mittelalterliche Tarot nennt. 

Niemand kann ohne Liebe leben; der Mensch muß etwas gern haben, sich an etwas freuen, sonst wird er krank. Liebe ist unentbehrlich für Mensch und Tier, für Pflanze und den ganzen Kosmos. Liebe ist der unirdische Ausdruck, die himmlische Schwingung, die Glaube und Hoffnung zusammen hervorgebracht haben und die den vier Elementen das Leben gibt. Die Liebe bedient sich der Ätherschwingungen, um die vier materiellen Elemente zu Geschöpfen zusammenzufügen, die durch die Atmung darin zu leben beginnen. 

Diese Liebe wird konkreter in der Zahl 5 oder der fünften Tarotkarte, dem Fünfstern, durch den die Liebe den Naturmenschen derart intensiv beeinflußt hat, daß er wiedergeboren wird aus Liebe zu dem Quell der Liebe: Gott oder dem Geist. 

In der dritten Karte, als jugendliche Frucht aus Glaube und Hoffnung, ist die Liebe zögernd, zurückhaltend; sie sucht nach einer Wohnung, einem Menschen oder einer Seele, um sie zu führen. 

Aus Glaube und Hoffnung wird diese zögernde, dennoch den Menschen mit Freude erfüllende neue Sicherheit geboren: Wärme, Entschlossenheit, Opferbereitschaft, Hingabe oder Erbarmen. Diese Liebe als Kind des Himmels hat sehr viele Ansichten; sie kann sich auf vielerlei Weise ausdrücken, aber sie baut immer an etwas Neuem, sei es an einer bloßen Änderung oder an einer Umwandlung. Liebe ist niemals Stillstand, Tod, Schlaf. 

Liebe bringt dem Pilger auch keineswegs absolute Herrlichkeit. Seine Liebe kann ihm Einsicht geben. Die Herrscherin als die Führerin durch die Natur läßt ihn hinter die Kulissen der Natur schauen und konfrontiert ihn mit der Wirklichkeit in ihren phantastischen Aspekten, aber auch in ihrer unsagbaren Tragik. 

Wer das Kind aus Glaube und Hoffnung in sich zum Leben gebracht hat, muß zu allem bereit sein; denn dieses Kind verlangt von ihm gänzliche Hingabe. Diese Liebe, die den Pilger durch die Natur führt, die ihn hineinführt in schwere Erfahrungen, in himmlische Glückseligkeit, in Wahrheit und Lügen - kurz: die den Pilger beide Seiten der Natur schauen läßt und ihn beschirmt vor Untergang und Verführung, ist der himmlische Schlüssel, der dem Pilger die Überwindung sichert. Er kann diesen Schlüssel annehmen oder verwerfen und sich mit einem beschränkten Schlüssel behelfen, der nur für einige wenige Räume paßt. 

Es verwundert nicht, daß dieses Kind des Glaubens und der Hoffnung nur wenige Menschen auserwählt; denn sein Besitz bedeutet: schwere Konsequenzen, strenge Prinzipien, nichts für sich selbst erbitten, alles um des Geistes willen tun und schließlich die Natur lieben, wenn auch nicht anbeten..... 

Venus schauen, aber sie nicht anbeten (12) - im Gegenteil, sie erkennen und anerkennen als Herrscherin des Herzens, aber niemals vergessen, daß der Geist diese Herrschaft mit ihr teilt. 

Dem spirituellen Pilger, welcher der Geburt der Liebe für würdig befunden wurde, wird sozusagen ein Kind in die Hände gelegt, das er großziehen darf, um schließlich Herrscher darüber zu werden. Venus, die Herrscherin, fügt sich ihrem Herrscher, wenn dieser bewiesen hat, daß er gegen ihre Verführungen gefeit ist. 

Alle geistigen Sucher geraten in eine chaotische Situation, sobald sie unwissend, ungeschult und nur ausgestattet mit einem unbestimmten Seelenhunger die spirituellen Aspekte des Lebens erforschen wollen. 

Wie viele kommen in dieser Situation um?! 

Wie viele werden überwältigt durch die Verführung, durch das "kleine Glück", durch die instinktiven Emotionen und die instinktive Gehirntätigkeit? 

Die Basis, um die Selbsteinweihung zu verwirklichen, fehlt fast jedem Menschen. Fast jeder trägt die Liebe entartet aus. 

Doch gibt es einen Menschen, der das Wort Liebe nicht kennt? Gibt es jemanden, der den Gegenstand seiner Liebe nicht früher oder später in seinem Leben als Verführung oder als Last empfindet? 

Der spirituelle Mensch kann es sich nicht erlauben, sein Liebespotential zu entehren; er darf nur mit etwas oder jemandem sympathisieren. Lieben aber heißt sich gänzlich verschenken. 

Ist das hier auf Erden überhaupt möglich? 

Schenkt sich ein Sohn des Lichts, der Glaube und Hoffnung hegt, der sich dem Geist übergeben will, ganz und gar irgendeinem irdischen Ziel? 

Gibt es das? Darf das sein? 

Der Mensch kann mit Schönheit sympathisieren, er kann sie gern haben; er kann Pflanzen, Tiere und Menschen gern haben, aber darf er sich, wie es die Liebe verlangt, daran verschenken? 

Was bleibt denn dann für den Geist übrig? 

Es gibt viele Menschen, die sich selbst, ihr Leben, ihr ganzes Ego an ein humanes Ziel wegschenken. Prächtig! Bewunderungswürdig! Mit diesem Ziel dienen sie ihrem Gott. Sie sind moralisch hochstehende Menschen; sie denken nicht an sich selbst; sie leben für ihre Mitmenschen aufgrund ihrer Überzeugung. 

Geschieht aber etwas Himmlisches, etwas Erneuerndes durch ihre Werke? Wird die Erde verändert, ändert sich ihr Mitmensch, ändern sich ihre Kirche, ihre Dogmen, werden ihre Kranken geheilt? 

Liebe kennt viele Gesichter. Die Liebe zum Geist, die das Selbst ändert, die die Erde erneuert, der Natur das Leben schenkt, bewegt sich aus der humanen Ebene in das geistige Gebiet. Ohne humane Liebe kann die geistige Liebe nicht bestehen. Ein Pilger, der aus Glaube und Hoffnung die Liebe findet, muß sich um seines Zieles willen verschenken. Sein Ziel bestimmt dann die Art seiner Liebe. Der selbstlose, aufopfernde Humanismus der großen Idealisten ist die reinste Frucht ihres dogmatischen Glaubens und ihrer ideellen Phantasie. Die bringen die natürliche Liebe in ihrer reinsten Form hervor, die sich immer auf den Mitmenschen, auf dessen irdische Verhältnisse, dessen irdische Leiden ausrichtet. 

Wenn ein Esoteriker oder wie immer er sich auch nennen mag, in der Lage ist, die Frucht seines wissenden Glaubens und seiner geistigen Imagination auszutragen, dann geschieht etwas Unglaubliches auf Erden. Dann werden überall großartige Menschen aufstehen, geistige Führer in der erhabensten Bedeutung dieses Wortes; geistige Führer, wie die Welt nur wenige gekannt hat, Führer, die einen absolut gnostischen Glauben, eine absolut geistige Hoffnung als Lebensidee bringen und schließlich in Seelenliebe den Menschheitspfad voraufgehen. Durch ihre eigene Seele werden sie die menschliche Natur beseelen und in der Lage sein, eine Umkehr zu bewirken. 

Nun, Pilger, Esoteriker, wissender Mensch, fühlen Sie sich dazu in der Lage? Nein?! 

Dennoch ist dies Ihr Auftrag! Sie wollen umkehren, umwandeln, transfigurieren?! Aber wo denn und wann? 

Wie denn und wozu? Wird das nicht hier und jetzt in diesem Augenblick von uns erwartet? 

Dieser Glaube, ist er in Ihnen? Diese Hoffnung, fühlen Sie sie in sich? 

Das Denken ist dann erfüllt von Freude, von Geistkraft, von Leben und von unaufhörlichem Wissen gleich einer beständigen Nahrung. Spüren Sie davon nicht vielleicht doch ein wenig in sich, Pilger? Kennen Sie diese Erfahrung? 

Wenn ja, stabilisieren Sie sie, verlängern Sie die Augenblicke, seien Sie konsequent, seien Sie ehrlich gegen sich selbst! 

Sie kennen doch die Worte des Neuen Testamentes: "Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei sind geblieben, aber die Liebe ist die größte unter ihnen!" (1. Kor. 13,13) - weil diese Liebe, der Höhepunkt von Glaube und Hoffnung, den Geist auf ihre eigene Weise der Natur überträgt. Das bedeutet, auf IHRE eigene Weise, gemäß Ihrer Art! Ihr Charakter ordnet sich dieser Liebe unter. 

Die Liebe wird nicht durch Charakterfehler verstümmelt, weil sich der Charakter selbst der Liebe des Geistes überträgt. 

Die instinktive Liebe des materiellen Menschen wird ständig von der Ichzentralität beleidigt. Die geistige Liebe duldet das nicht, sondern zieht sich zurück, sobald das geschieht. Der hebräische Buchstabe Gimel, der zur Herrscherin oder der Liebe gehört, bedeutet "Kamel" (2), das Schiff der Wüste. Die Liebe trägt den Sucher durch die dürre Wüste der materiellen Welt und bringt ihn sicher auf die andere Seite, wenn diese Liebe jungfräulich bleibt, nicht besudelt wird durch Ichzentralität oder instinktive Leidenschaften. Dann verliert sie ihre Kamelkraft und ihre Kamelweisheit, und der Mensch kommt in der Wüste des Lebens um. 

Ist es nicht so? Wie vielen gelingt es wirklich, die andere Seite der Wüste zu erreichen? Kommen nicht die meisten um durch Fata Morganas und die Grausamkeit der Wüstennatur? 

Die aus Glaube und Hoffnung hervorgebrachte Liebe ist Ihr Schiff, Ihre Arche, Ihr letzter Rettungsanker in diesem Notzustand, in dem Ihre Seele um Hilfe schreit. Wir malen das Leben nicht etwa zu trübselig aus, sondern betrachten es nur vom Blickwinkel der Seele. Das Leben braucht aber nicht trübselig zu sein, wenn das Kamel, Gimel, oder die Liebe neben dem Menschen geht; denn dann wird er geführt, sieht die Schmerzen wohl und erkennt auch die Gefahren, aber sie gehen an ihm vorüber. 

Diese Liebe ist dann wie der Eros, der seinen Pfeil auf die Täuschung, die Illusion, die Verführerin abschießt, wie auf der Karte 6 des Hermetischen Tarot dargestellt (1). Der Weg wird für diesen Menschen gebahnt, weil das Kamel, die Liebe, in ihm ist und mit ihm geht, also auch von ihm abstrahlt. Darum kämpft ein solcher Mensch nicht gegen die Materie, sondern die Materie weicht auseinander, wenn er ihr entgegenschreitet. Die primitive Einstellung der Menschen, Gott um materiellen Wohlstand, um Geld und Gut zu bitten, ist eine Verdrehung der wirklichen geistigen Verhältnisse. Der Mensch, der Glaube, Hoffnung und Liebe in sich trägt, braucht nicht um eigenen Wohlstand zu bitten; ihm wird geholfen, noch bevor er bittet. Er würde niemals um Wohlstand bitten, einmal weil er ihn nicht braucht, zum andern weil Gott seine Wünsche erhört, bevor seine Lippen sie ausgesprochen haben - Wünsche, die nicht an eine materielle Vorstellung gebunden sind, sondern sich nur auf die Freiheit der Seele beziehen. 

Freiheit und Mensch-Sein sind eins, sagt eine Triade der Druiden (13). Mensch-Sein bedeutet: Glauben an den Geist, an I.O.W., wie die Druiden den obersten Geist nannten (14), wodurch der Mensch hofft, also lebendige Bilder schafft und dadurch sein Denken fördert und reinhält, damit zum Schluß die Liebe in ihm wohnt, die aus der Gnosis ist, und Erbarmen, das aus der Gnosis, der Kenntnis des Herzens, entsteht. 

Die Herrscherin der dritten Tarotkarte kennt ihre Natur, wie der vollwertige Mensch seine Natur kennt und sich ihrer erbarmt. Erbarmen zu haben, ist der höchste Ausdruck der Liebe und bedeutet: das Böse vergeben, Gnade gewähren, weil man das Wissen um das Warum der Dinge besitzt. Vergebung oder Gnade ist die einzige Wirksamkeit, die das Gesetz des Karmas aufhebt -jenes mitleidlose Gesetz, dem der unwissende Mensch verhaftet ist. 

Gott kennt Vergebung. Sollte da der vollwertige Mensch, der das Ebenbild Gottes wiederhergestellt hat, sie nicht kennen? 

Die Liebe bringt das Erbarmen; der vollwertige Mensch lächelt über die verführerischen Künste der Venus und ruft ihr verborgenes Wesen auf: die Herrscherin, die Führerin der Natur. Dann wird sie wirklich zum Morgen- und Abendstern; diese Liebe wird im Pilger nie mehr erlöschen; denn sie beweist ihm für immer, daß das Leben anwesend ist - in der Natur, in seinem Wirkungsbereich, als Beschützerin und Bewahrerin, als Führerin und Lastenträgerin, damit er nicht müde werde! 

Gibt es eine Fähigkeit, die besser alle Lasten auf sich nehmen kann als die Liebe? 

Lesen Sie es einmal im 1. Korintherbrief, Kap. 13 nach! 

Die Liebe vermag alle Dinge. Selbst die irdische Liebe bemüht sich darum, es ihr gleichzutun. 

Warum fällt es dennoch so entsetzlich schwer, das Bild des vollwertigen Menschen zu realisieren? 

Warum begibt sich der Mensch auf allerlei Umwege, spekuliert mit der Spiritualität, bläst sich in geistigem Eigendünkel auf? 

Weil er nicht auf die richtige Weise glaubt. Sein Fundament ist unvollkommen und macht dadurch seine Phantasie krank, weshalb schließlich aus diesem gescheiterten Elternpaar ein verstümmeltes Kind erzeugt wird, das zu nichts Vollwertigem imstande ist. 

Reinigen Sie Ihren Glauben; vervollständigen Sie Ihren Glauben; prüfen Sie Ihren Glauben, aber vor allem: Vollenden Sie Ihren Glauben; machen Sie ihn zu einem Wissen, zu einem mächtigen, bewußten und vor allem würdigen Magier, wie ihn der Hermetische Tarot darstellt. Lauschen Sie innerlich auf seine Stille, was erst möglich ist, wenn das Ego endlich schweigt! Und fühlen Sie, wie die Hoffnung in Ihnen aus Ihrem Herzen aufwallt, ihren Weg zum Denken nimmt! 

Betrachten Sie ihre Bilder kritisch und erkennen Sie daran die Art Ihres Glaubens! 

Wenn Sie feststellen, daß Glaube und Hoffnung ein würdiges Elternpaar sind, erspüren Sie dann, wie langsam, aber sicher nach einer gewissen Wachstumsperiode die Liebe ersteht, die Ihnen die Gnosis gebiert mit dem geistigen Erbarmen und der Kraft, um alles zu tragen, was Ihnen auferlegt wird. Dann erst öffnet sich die Welt wirklich vor Ihnen, und Sie werden hineingehen als ein Fremdling (Hebr. 11,9), der dennoch alle Wege kennt!

©1970-2013 Henk und Mia Leene