Der Wind flüstert Weisheit

"Es gibt fünf Stufen um zur Weisheit zu gelangen: Schweigen, Lauschen, sich Erinnern, Handeln und Studieren." 

Arabisch 


Niemand wird sagen können, daß Weisheit etwas völlig anderes sei als Intellektualität. 

Weisheit ist eigentlich etwas Ungreifbares für materialistische Hände, denn z.B. "der Wind der Feindseligkeit weht nie in dem Königreich der Weisheit", stellt die Weisheit direkt auf einen völlig gesonderten Platz. 

Der zitierte arabische Text ist darum tiefsinniger als man vermutet, weil Anstrengung nie in Weisheit resultiert, obwohl Bequemlichkeit ebenfalls fern von ihr bleibt. 

Weisheit hat ihren Sitz in der Harmonie zwischen Verstand und Gefühl; es ist das Gleichgewicht, das uns unbesorgt macht, jedoch nicht sorglos. 

Weise Menschen erschweren ihr Leben nicht indem sie sich nutzlose Sorgen machen oder sich die Probleme von anderen aufhalsen oder die eigenen Emotionen vergeuden für sinnlose Zwecke. 

Wenn man sagt: der Wind flüstert Weisheit, dann heißt das: man muß lauschen können auf die ungeformten Klänge, man muß lesen können hinter den Worten und erkennen können hinter den Masken. 

Weisheit ist wie eine stets vorhandene Schwingung um uns hin. 

Sie kann sich überall aufhalten, sowohl in der Natur als auch in dem Menschen, in einem Gebäude als auch in einem unbegrenzten Raum. 

Weisheit ist ungreifbar, aber sie kann sein wie ein samtener Mantel, der um unsere Schultern gelegt wird, wodurch wir uns sofort behaglich fühlen. 

Es ist zwecklos, zu versuchen, einander weise zu machen, weil die Weisheit in uns selbst entsteht nach Handlungen und Erfahrungen. 

Nach schmerzlichen Erfahrungen lernt man wohl zu schweigen; nach vielen Irrtümern durch Unaufmerksamkeit lernt man wohl zu lauschen; und nach dem sich Zuziehen von einschneidenden Verwundungen muß man sich wohl erinnern; und nach der Erfahrung, daß das Reden keinen Sinn hat, geht man zum Handeln über, und das Studieren ist dasselbe wie Untersuchen, das Graben nach dem Kern aller Dinge. 

Diese Studie vollzieht sich während des Lebens, und wenn man nicht will oder es aufschiebt, wird man durch die Umstände gezwungen. 

Nichts ist eine für sich selbst stehende Lehre; die fünf genannten Stufen gehören zueinander; auf harte Lehren z.B. muß das sich Erinnern folgen. 

Jeder hat Erfahrungen, doch wieviele lernen daraus? 

Das Rad von Geburt und Tod vollzieht sich an uns allen und niemand kann sich dem entziehen; aber wir haben es selbst in der Hand, wieviele Umdrehungen es für uns machen wird. 

Wir brauchen nicht zu hoffen auf eine Rettung oder eine Gnade, solange wir selbst nichts tun. 

Wir tragen persönlich dazu bei, ob die Lichtfrequenz stärker oder schwächer wird, das hat nichts mit einem freundlichen Gott zu tun. 

Es ist so dumm zu meinen, daß alles für uns getan würde, oder daß wir jeden Verdruß auf andere Schultern werfen könnten oder auf Gottes Schultern. 

Die Gesetze sind im Himmel und auf der Erde dieselben: jeder Mensch schafft sein eigenes Schicksal, und dies steht außerhalb jeder Form von Religiosität. 

Es gibt nur eine Religio und diese wohnt als ein individueller Stern in dem Menschen selbst. 

Es ist bloß eine Gewohnheit von vielen, sich äußerlich an etwas anklammern zu wollen, und da häufig das Unterscheidungsvermögen fehlt, wird allzu oft auf ein falsches Pferd gesetzt, verbunden mit allen emotionellen Konsequenzen. 

Der Mensch ist ein Individuum, kein Herdentier; und da, wo sich Herden konzentrieren, hat er nur den Auftrag, sich von ihnen zu befreien. 

Nur wenn er abgesondert ist, kann er auf die richtige Weise lauschen. 

Niemand kann sich selbst entdecken inmitten einer Masse, und niemand kann sich ständig nähren mit Lehren, die an ein Mittelmaß abgestimmt sind, und das ist der Fall in jeder Gruppe. 

Es ist unvorstellbar, wieviele Lehren sich verbergen in dem Beohachten seiner Umgebung. 

Es ist auch frappant, wieviel man vernehmen kann in der Einsamkeit und/oder in der Stille. 

Auch dies ist eine Erfahrung, die auf andere Lehren folgt. 

Die fünf arabischen Stufen sind Stück für Stück Kunstwerke des Lebens. 

Wer ertappt sich nie dabei, daß er seinen Mund nicht halten oder nicht zuhören konnte? 

Oder völlig vergessen hatte, was er empfand, als er z.B. seinen Glauben verlor oder seine innere Sicherheit? 

Wer bedauert es nicht, in einem bestimmten Augenblick NICHT gehandelt zu haben, oder versäumt zu haben, etwas zu untersuchen? 

Es vergeht viel zu viel Zeit mit Irrtümern, Unterlassungen und Bequemlichkeit. 

Auch in spirituellem Sinn muß man das Eisen schmieden solange es heiß ist, also zu reagieren, wenn die Intuition einem sagt, dies tun zu müssen. Aufschieben macht träge und Trägheit macht flach, das Feingefühl stumpft ab. 

Der Wind ist ein Naturelement, das stets wieder Veränderung bringt und in dieser Veränderung kann ein Körnchen Weisheit verborgen liegen. 

Hat man wohl einmal bemerkt, daß das Leben eine große Drehung eines Rades ist, wobei stets wieder das Unterste nach oben kommt und umgekehrt? 

Als der Prediger sagte: es gibt nichts Neues unter der Sonne, hatte er hundertprozentig Recht, und noch viel mehr als man vielleicht meint. 

Es wird der Natur nichts hinzugefügt, es verschwindet, es verändert sich mit Hilfe derselben Ingredienzen, aber es kommt nie etwas wirklich Neues. 

Das gilt für Schöpfungen und Geschöpfe. 

Daher ist die Erinnerung so wichtig. 

Erinnerungen können Menschen zusammenbringen oder voneinander entfernen. 

Die Natur, der Kosmos, das Geschöpf sind Gefäße voller Erinnerungen, und alles was man tut, basiert auf Erinnerungen, wenn es einem auch nicht bewußt ist. 

Wir werden im Grunde gelebt durch dasjenige, das wir hinter uns und in uns haben. 

Wenn wir nun denken: wo bleibt denn dann die viel gepriesene Freiheit? 

So muß man wissen, daß es nur eine Freiheit gibt, die Freiheit, wohl oder nicht zu lauschen, zu handeln, zu schweigen, zu studieren oder sich zu erinnern. 

Wenn wir diesen fünf Stufen kein Gehör schenken, WOLLEN wir es einfach nicht, und das ist unsere Freiheit: wir können wollen oder nicht. 

Diese Freiheit, die ein Fluch sein kann, vollzieht sich auf allen Gebieten: 

wir WOLLEN krank sein oder nicht; 

wir WOLLEN uns dumm stellen oder nicht; 

wir WOLLEN uns an irgend etwas klammern oder nicht. 

Und aus diesem Wollen oder Nichtwollen entstehen dann Folgen, die ein eigenes Leben führen und wofür möglicherweise allerlei Institute, soziale und religiöse, ins Leben gerufen werden. 

Die Nebensächlichkeiten lenken uns von der wirklichen Ursache ab und beginnen eine Hauptrolle in unserem Leben zu spielen. 

Da die Nebensächlichkeiten uns zu beherrschen beginnen, können wir unseren Lebensweg völlig verändern. 

Weisheit ist, Lauschen auf und Suchen nach unserem eigenen Leitstern; nicht reagieren auf das, was der sterbliche Mensch so gerne möchte. 

Das können wir tun als einen vorübergehenden und sehr oberflächlichen Zeitvertreib. 

Unser Leitstern spricht unseren unsterblichen Kern an, und wenn dieser krank wird oder dahinsiecht, fühlt der ganze Mensch sich unglücklich. 

Und wenn wir NICHT lauschen auf das, was unsere Intuition darüber sagt, bekommen wir harte Lebenslektionen, körperlich und geistig. 

Das ist nicht schlimm, es ist ein Zeichen, daß das kosmische Licht sich noch mit uns bemüht. 

Aber gefangen zu bleiben in Nebensächlichkeiten und zu jammern über Unwichtiges, ist fatal. 

Jeder Mensch ist ein wertvolles Geschöpf, darum hat er auch wertvolle Dinge zu tun im Leben; und wertvolle Dinge stehen immer in Verbindung mit Menschlichkeit und Untersuchen. 

Wenn wir MEINEN, etwas vergessen zu haben, oder MEINEN zu suchen nach etwas, das wir verloren haben, dann müssen wir zum Untersuchen übergehen. 

Und dies kann allerlei Aspekte haben und braucht nicht in Verbindung zu stehen mit dem Lesen von Büchern, obwohl es nicht ausgeschlossen zu werden braucht. 

Untersuchen ist, aufmerksam zu sein auf Kleinigkeiten, die man überall beobachten kann. 

Jeder kann von Zeit zu Zeit einen Augenblick weise sein, und das macht friedfertig und glücklich. Weise zu sein macht das Leben leichter und reicher. Und im Grunde ist es einfach. 

Wir brauchen nur dem nachzugehen, aus welchem Motiv heraus wir reagieren oder handeln; ist das Motiv egozentrisch, hat es eine Nebenabsicht, ist es materialistisch? 

Überlegungen haben nur allzu oft den Zweck, unseren eigenen Vorteil in Augenschein zu nehmen. 

Weise Reaktionen sind spontan und kommen von innen und entspringen einem harmonischen Augenblick zwischen Gefühl und Denken. 

Je öfter wir solche Augenblicke haben, von desto längerer Dauer werden sie sein; mit allen guten Gaben ist es so, daß ihr Gebrauch sie vergrößert oder vertieft. 

Mit der Weisheit ist es nicht anders. 

Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn die sogenannnte Spiritualität oder Religiosität uns weder vertieft noch weiser oder geistig reicher macht. 

Das Spirituelle, das wir lebendig machen, vertieft und erweitert sich; die kleinen Talente, oder die kleinen Möglichkeiten, die wir besitzen, werden größer und intensiver, wenn wir davon Gebrauch machen, wenn nicht, dann verkümmern sie. 

Wir starren uns vielleicht blind an DER Weisheit, während ein Funke dieser Weisheit täglich an unsere Türe klopft; wir negieren die Möglichkeit, um im letzten Augenblick weise zu sein. 

Weise ist, nicht ständig dieselben Erfahrungen wiederholen zu müssen; weise ist, sich nicht provozieren zu lassen; weise ist, sich nicht von Mitmenschen beeinflussen zu lassen; weise ist, den eigenen Weg zu gehen, ungeachtet, was andere dazu sagen; weise ist, sich von etwas zu befreien, wenn es uns zu sehr geistig belastet. 

Weisheit lauscht nicht egozentrischen Motiven. 

Es ist natürlich immer richtig, dasjenige zu tun, woran man ein Bedürfnis hat, aber es ist noch richtiger, sich selbst zu fragen, wodurch dieses Bedürfnis entsteht. 

Unsere Bedürfnisse wurden im Laufe der Jahrhunderte dermaßen verformt, daß wir gehörig abgewichen sind von den Ur-Bedürfnissen und der spirituellen Notwendigkeit. 

Unsere Bedürfnisse färben uns. 

In Wirklichkeit kann der Mensch mit sehr wenig auskommen; man schafft Bedürfnisse aus allerlei zweifelhaften Motiven. 

Vielerlei Bedürfnisse entstehen aus körperlicher oder spiritueller Schwäche und diesen Bedürfnissen nachzugeben, vergrößert die Schwäche noch. 

Jeder weiß, daß Entbehrungen einen sehr guten Einfluß haben können. Auch geistig. 

Wenn man notgedrungen etwas entbehren muß, kommt man zu Kreativität, Ingeniosität und Selbstuntersuchung. 

Wenn das nicht so ist, ist es bereits ein Zeichen von Unzulänglichkeit in dem Mensch-Sein. 

Welches befriedigte Bedürfnis trägt bei zu unserem Glück? 

Das ist eine Kardinalfrage. 

Welches Bedürfnis macht uns innerlich reicher? 

Alle anderen Befriedigungen sind zeitlich, sie gehen vorbei und hinterlassen manchmal einen bitteren Geschmack. 

Spirituelle Befriedigungen werden oft verwechselt mit emotionellen Befriedigungen. 

In einer Zeit, in der Menschen emotionell einen Mangel erleiden, beginnt die Religion die Rolle des emotionellen Stillers zu spielen. 

Der Psychologe, der Therapeut und der Psychiater haben die Stelle des Pfarrers und Pastors eingenommen, nicht wahr? 

Aber spirituelle Befriedigung geht wohl etwas tiefer als die Emotionen, es ist das Stillen eines unausrottbaren Hungers, und je mehr man empfängt, desto hungriger wird man. 

Es ist eine Form von Weisheit, den Unterschied zu erkennen zwischen intellektueller und/oder emotioneller Befriedigung und spiritueller Sättigung. 

Eine spirituelle Nahrung sättigt nachhaltig, es ist eine Nahrung, die man nie mehr zurückweisen wird. Sie nährt den Kern, macht diesen stärker, verändert einen. 

Es sind in unseren Erfahrungen wahrscheinlich immer nährende Bestandteile gewesen, die von bleibender Beschaffenheit waren. Es gibt Dinge, die man sein Leben lang gebraucht oder an die man sich erinnert, vielleicht feilt man etwas daran, aber wegwerfen tut man sie nicht. 

Es sind unsterbliche Werte, und man wird auch beweisen können, daß sie wertvoll bleiben. 

Menschen können einem etwas aufschwatzen, aber die Erinnerung, das Wertvolle, bleibt unangetastet. 

Je stärker, lebendiger der Kern wird, desto stärker wird man im Leben stehen, aber auch desto weiser wird man sein. 

Es kommt also darauf an, den Kern zu vergrößern und zu vertiefen. 

Wie? 

Durch Lauschen - das Unvertonte auf sich einwirken zu lassen; durch Schweigen - wenn man nichts Wertvolles zu sagen hat; 

durch Handeln - wenn die Intuition dazu drängt; 

durch Untersuchen der Dinge - die einem wertvoll erscheinen; 

und vor allem auch durch sich Erinnern an das, was einem widerfahren ist, oder was man vernommen hat. 

Das erspart schmerzliche Wiederholungen und harte Lektionen. 

Überdies ist die Erinnerung die einzige Lehre, aus der man zeugen kann - und Zeugnisse sind viel eindrucksvoller als Worte. 

Aus diesem Gefäß voller Erinnerungen in uns selbst, Erinnerungen, die vielleicht nur etwas getrübt wurden, können wir Wegweiser finden, die uns zweifellos die richtige Richtung weisen. 

Dann brauchen wir nicht so verzweifelt jeden zu fragen: Wo ist die Wahrheit? Was ist wertvoll? Welche Lehre ist richtig? 

Es ist doch abgedroschen, stets dasselbe zu wiederholen. 

Alles ist doch IN uns, man braucht nur die Umstände, die uns wachrütteln, oder unsere Erinnerungen aufrühren. 

Durch das Abweisen von Umständen oder Erfahrungen, weil "alles in uns sein sollte", kommen wir nicht vorwärts, denn der Zug der Vergessenheit behindert uns, deutlich zu unterscheiden. 

Sucher auf geistigem Niveau suchen immer nach Anweisungen, Prickeln, die ihre Erinnerung erwachen lassen, obwohl sie dies meistens nicht erkennen. 

Ein spiritueller Sucher sucht nie nach Vermehrung von Kenntnis, sondern immer nach Vertiefung. 

Es ist nie die Vielheit, sondern immer die Qualität, die den Ausschlag gibt - jedenfalls immer auf geistigem Gebiet. 

Ein Mensch verfeinert und bereichert sich durch Selektion, nicht durch Sammelwut. 

Das ist deutlich zu erkennen bei den religiösen Organisationen: Mengen zu versammeln, verdünnt die Nahrung; Selektion qualifiziert die Nahrung. Und sie, die die verdünnte Nahrung begehren, haben nur ein schwaches spirituelles Bedürfnis. 

Jemand, der wünscht, weise zu sein, sucht Nahrung, die die Weisheit nährt. Und die Weisheit ist sehr wählerisch. 

Denn die Weisheit wird mit genährt von Erinnerungen, und Erinnerungen wählen ebenfalls die Nahrung aus. 

Es ist sehr richtig, was Plato sagte und was auch die Druiden sagten: die gemeinsame Erinnerung verbindet die Menschen. 

Es ist die Qualität unserer Seele, die uns gegenseitig erkennen läßt. Von dieser Qualität können wir weder etwas wegnehmen noch ihr etwas hinzufügen. 

Es ist der Wind, der uns zuflüstert: das ist einer von uns, und dann umarmen die Seelen einander.

©1970-2013 Henk und Mia Leene