Wer die Erkenntnis eines Weisen weitergeben will, muß imstande sein, das Wesen dieses Weisen zu ergründen. Nur in den spirituellen Schwingungen können wahre Weise einander begegnen. In diesem Bereich bildet sich dann auch die Bruderschaftskette, aus der die unverbrüchliche Einheit entsprießt.
Wer sich über die Begrenzung des Ego erhebt, begegnet den Ichlosen, die keine Disharmonie untereinander kennen. Aus dieser Einheit strömt unaufhörlich der lebenschenkende Atem in die zeitliche Notordnung ein. Nur die Arroganten kapseln sich gegenüber diesem Lebensatem ab und vegetieren von der zeitlichen Lebenskraft der entsprechend zeitlichen Natur.
Wenn wir uns in das Buch von Andreae vertiefen, dann müssen wir ihm auch in der Größe seines Rosenkreuzertums näherkommen können, ohne darin irgendein Dogma, einen Glaubenssatz zu finden. Andreae sagte nämlich: "Wer das Buch der Welt andächtig liest, kann die Schriftzeichen Gottes verstehen und ist dadurch, ohne sich so zu nennen, ein wahrer Rosenkreuzer."
Das "Buch der Welt" ist das Buch der Natur, in dem die Spiegelungen Gottes den Menschen auf die innewohnenden heiligen Schriftzeichen hinweisen. Wenn man aus dem Geheimnis der zeitlichen Natur aufsteigt, kann man zum Geheimnis der ewigen Natur gelangen.
Darum ist nicht derjenige ein Rosenkreuzer, der fanatisch irgendeine Rosenkreuzer-Organisation verteidigt, sondern derjenige, der seinen Orden, den Rosenkreuz-Orden der Inneren Wahrheit, nicht dem Teufel oder einem Geist zuschreibt.
Es ist einleuchtend, daß hier nicht auf eine äußere Rosenkreuzer-Bewegung hingewiesen wird, sondern auf ein Geheimnis, das Gott, der Schöpfer, und seine Dienerin, die Natur, bewahren. Das ist der Orden, in dem sich die Lichtsöhne oder die zurückkehrenden Seelen vereinigen, ohne sich einen Namen zu geben. Mitglieder dieses Ordens sind alle, die den Schöpfer in seiner allerhöchsten Einheit loben und sich aus diesem Grunde in das "Mysterium der Zeitlichkeit der Natur" vertiefen - einer Natur, die in den Schoß der Ewigkeit zurückkehren muß (1.Kor.15,28).
Der Orden vom Rosenkreuz, so wie Andreae ihn sah, existiert seit der Urvergangenheit; in ihm wurden immer die "Geheimnisse der Natur" im Leben und Sterben der Zeitlichkeit erforscht.
Darum sollte man nicht von neuen oder jungen RosenkreuzerBewegungen sprechen; denn alle Symbole des Lebens, vom Hakenkreuz bis zum ägyptischen Henkelkreuz (Lebensschleife) und vom Rad des Buddha bis zum Kreuz von Jesus, sprechen von dem einen, unsterblichen Orden, in dem alle Brüder Mitglieder sind, die sich in Dankbarkeit für den Torhüter aufopfern wollen.
Das fünfte Gebot des Ordens erscheint lächerlich, wie C.R.C. schreibt, aber nicht für diejenigen, die die Chymische Hochzeit mit okkulten Augen lesen. Der wahre Alchimist ist kein Okkultist. Darum ist der Wunsch, "länger zu leben, als es Gott haben will", für den Alchimisten eine Posse. Aber der Materialist, der zu den Scheinhöhen des Okkultismus emporgeklommen ist, hat nur ein Bestreben: das ewige Leben als Ego, sei es im Stoff oder in der Astralsphäre.
Diese letzte Ordensregel hat aufgehört, ein Scherz zu sein, sobald der steinharte, okkult-saturnale Mensch sein Interesse auf den alchimischen Prozeß richtet. Die Hetze, mit der der egozentrische Mensch nach dem Wasser "des Lebens" sucht, kennt nur ein Ziel: den "Tod" von seinem Lebensweg zu verbannen. Die Selbstbehauptung in der unsichtbaren Sphäre der zeitlichen Natur ist der große Selbstbetrug des saturnalen Menschen, der nicht in dem unabwendbaren "Tod" der Alchimisten untergehen will.
Die "Gaben", die der wahre Rosenkreuzer als Hilfe für seine Nächsten anwenden soll, erwachsen aus seiner konsequenten Lebenshaltung auf der Basis von Gewissen und Intuition. Mit seinem Gewissen sucht er den rechten Weg und steht mit seiner Gewissensstimme seinem Nächsten bei. Mit seiner Intuition erforscht er die Geheimnisse von Gott und Natur, die alle in ihm selbst verborgen liegen.
Die allererste Aufgabe eines Bruders dieses Ordens der Lichtsöhne ist daher auch: das Gleichgewicht der zeitlichen Natur herzustellen, damit sich in die ausgewogenen Lebensbahnen die Ströme der göttlichen Harmonie ergießen können. Harmonie innerhalb der zeitlichen Natur entsteht immer dort, wo die Dämonen zur Ruhe gebracht werden, wo sie einander auf dem Weg der Mitte begegnen, der im Kreuzungspunkt der Gegensätze entsteht. Harmonie unten, im Kandidaten selbst, ist die Vorbedingung für das Einströmen des Oben.
Das Kreuz, von dem Andreae spricht, an dessen Fuß die Rosen erblühen, wird in die Erde der zeitlichen Natur, des stoffgeborenen Menschen, gepflanzt, wodurch in diese Natur göttliche Ströme einfließen. Dieses Kreuz bringt Verwirrung in das menschliche Wesen; es erzeugt Streit zwischen den Gegensätzen, weil sowohl das Böse als auch das Gute den Sieg davontragen möchten.
Der Fall der Pistis Sophia in das Chaos bringt Neid und Begierde unter die Gegensätze, weil sie das Licht besitzt.
Das Niedersteigen der Seele in dieses zeitliche Naturfeld bringt den Mächten der zeitlichen Natur Streit und Grimm. Sie begehren die Harmonie der Einheit, aber sie können sie nur über das ursprüngliche Licht erreichen, das durch das Kreuz oder das Opfer des Lichtsohnes zu ihnen kommt.
Einsicht, die aus der Einheit der wiedergeborenen Seelenqualitäten kommt, ist in der Lage, die Gegensätze zur Vernunft zu bringen. Wenn der Mensch meint, das Gute zu tun, steht das Böse neben ihm (Röm. 7,19); das ist ein Gesetz dieser Natur, mit dem man rechnen muß. Darum enthält sich der wahre Rosenkreuzer des Urteils über Gut und Böse; er versucht wohl, beide Repräsentanten miteinander in Übereinstimmung zu bringen.
Das strahlende Gute in dieser Natur ist mit seinem Gegenpol, dem verderblichen Bösen, verbunden. Beider Existenz erwächst aus demselben Beweggrund: aus der Verankerung des Ego in der zeitlichen Natur. Nimmt man dem Ego seine Triebkraft, indem Intuition und Gewissen ihm die Nutzlosigkeit seines Strebens durch das Geheimnis der Worte erklären: "Die zeitliche Natur ist die Tochter der ursprünglichen Natur", dann versteht dieses Ego, daß diese Natur nicht zur Einheit in sich selbst kommen kann, weil sie an das Gesetz von "Geburt und Tod", "Aufgehen, Blühen und Versinken", das ist die Zeit, gebunden ist.
Durch diese Einsicht kann das Ego prozeßmäßig zur Ruhe kommen: E0s zieht sich in die Sphäre seiner Zeitlichkeit zurück und kämpft nicht länger. Aller Streit der Gegensätze ist auf die Eifersucht des zeitlichen Ego zurückzuführen, das die Ewigkeit begehrt. Sogar in den letzten Augenblicken von C.R.C. erkennt man noch dieses Verlangen nach Ruhm für das Ego. Das ist die Jagd der Äonen-Trabanten, die dem Ego bis in das Feuer nachsetzen, solange noch eine Spur von Leben in ihm zu finden ist.
Das Kreuz, auf das Andreae in seinen Worten hinweist, ist das Geschenk eines liebevollen Vaters für den Menschen, der die erste Stunde des "vollen Tages des Herrn" verwirklicht hat.
Solange der Kandidat seine Triebe nicht auf allen Gebieten, auch auf der spirituellen Ebene, beherrscht, läuft er Gefahr, daß seine mühsame Arbeit von den eifersüchtigen Trabanten, die in ihm selbst toben, vernichtet wird.
Das Tier aus dem Abgrund steht in der apokalyptischen Zeit in dem Augenblick auf, wo der Kandidat gerufen wird, die sieben Briefe zu schreiben, in dem Augenblick, wo sein Licht von allen gesehen wird, obwohl es nicht immer als solches erkannt wird.
Das apokalyptische Tier wird auch von C.R.C. erkannt, der sagt: "Dieses ist die schwerste Prüfung, die ich kennengelernt habe."
Der noch nicht erwachte Kandidat lebt in Frieden mit diesem "Tier aus dem Abgrund", weil er es wie sich selbst kennt und mit ihm lebt. Er kennt es als seine "böse Seite", macht alle seine Bewegungen auf und nieder mit, ohne das Spiel der Gegensätze zu unterbrechen.
Sobald er jedoch den Pfad-nach-oben betritt, dann will er doch von diesem Augenblick an sein inneres Zuhause bauen, nicht wahr?
Er will mit den zeitlichen Aspekten brechen und für die Ewigkeit bauen. Er unterbricht den Rhythmus der Gegensätze, die einander jagen, und versucht, sie zu versöhnen, damit sie unbeweglich, in Harmonie bleiben. Erst in dieser Unbeweglichkeit kann er einen Ewigkeitswert aufbauen, weil er den Abbruch nicht mehr zu fürchten braucht.
Darum bringt der wahre Lichtsohn, der das Geheimnis seines Ordens kennt, "die zeitliche Tochter" an den Quell der Harmonie zurück, damit sie ihre zeitliche Aufgabe pünktlich erfüllen kann. Kein Kandidat, der nach der Weisheit sucht, ist ein schlechter oder unbefugter Mensch; doch kann er wohl die Worte auf dem Amulett seines Ordens vergessen haben: "Die zeitliche Natur ist die Tochter der ursprünglichen Natur."
Er hat sich vielleicht in den Kampfring der Gegensätze begeben und sucht dort nach dem Ausweg und dem verlorenen Licht.
So wurde der Kampf der Gegensätze zum Kreuz, unter dem er zusammenzubrechen droht, zum Kreuz, an dem die Rose der Ewigkeit keinen Halt findet, das also wirklich das "Zeichen des Todes" ist, wie es die Katharer genannt haben. Man nimmt so häufig ein Kreuz auf seine Schultern, bevor man die Rose des Lichtes kennt. Solch ein Kreuz wurde nicht von dem Hohen Orden des Lichtes auferlegt, sondern immer vom Menschen selbst auf seine Schultern genommen, ohne daß er weiß, wozu und wohin er dieses Kreuz schleppt.
Dann müht er sich damit ab, ohne zu durchschauen, daß er nicht den Rosenkreuzweg zum Licht, sondern den Kreuzweg der Zeitlichkeit geht, die er zur Heiligkeit führen will. Das Kreuz der Gnade aber wird dem Kandidaten auferlegt, wenn er die Wurzeln der Rose in die Erde seiner zeitlichen Natur gepflanzt hat!
Kreuz und Rose kann man nicht voneinander trennen, gleichwie der Sohn-des-Vaters und das Licht nicht voneinander getrennt werden können und das Kreuz aus einem horizontalen und einem vertikalen Balken besteht. Die Harmonie in der Bewegung zwischen den Polen - der horizontale Balken - ermöglicht das Einpflanzen des vertikalen Balkens in die Erde der Zeitlichkeit, woran dann der Rosensproß seinen Weg nach oben, durch die Erde hindurch, bis zum Herzen des Kreuzes nehmen kann.
Auf das Tragen des Kreuzes bereitet sich der Kandidat vor; wenn er dann das Kreuz aufnimmt, wird ihm die Rose des Lichts als Leuchter in seine Hände gelegt.
Diese Praxis des echten Rosenkreuzers hat nichts mit Vorschriften, Gesetzen und Dogmen irgendwelcher äußerlich gebildeter Rosenkreuzer-Bewegungen zu tun, ja, sie ist nicht einmal an die Symbolik gebunden, die nur Erkennungszeichen ist, das C.R.C. in der Kapelle zurückläßt.
Wer sich auf diese Weise im Ring der zeitlichen Natur bewegt, ist ein Bruder des Ordens (ordo = Ordnung) und kehrt in die ursprüngliche Ordnung zurück, wenn sich die Zeitlichkeit in ihm in Harmonie aufgelöst hat. Das ist die Bedeutung der Worte: "Tod, wo ist dein Stachel? " (1. Kor. 15,55)
Denn das Ablegen dieses irdischen, zeitlichen Kleides hat keinerlei Auswirkung, gemessen an dem beschirmenden, lebenschenkenden Atem, der aus der Gottesnatur in die zeitliche Natur einfließt.
Diese Unterscheidung zwischen dem "ersten" und dem "zweiten" Tod machte es den Katharern leicht, ihr Leben auf dem Scheiterhaufen zu lassen; trotzdem versuchten sie, so lange weiterzuleben, wie es ihnen zugestanden war. Denn sie waren ihrem Orden verpflichtet, die Gaben, die sie besaßen, bis ans Ende ihres Lebens allen anzubieten, die sie benötigten.
Kein Gnostiker begeht aus Exaltation Selbstmord um eines religiösen, fanatischen Eiferertums willen; denn "die zeitliche Natur tötet man nicht, da sie den Atem Gottes in sich trägt".
Wo Ewigkeit und Zeit einen Bund schließen, gilt nur Dankbarkeit und Ehrerbietung, wobei sich die Seele beeilt, die ihr erzeigte Gnade in Lob auf den Schöpfer umzuwandeln.
Aus diesem einfachen Grund folgt der Lichtsohn dem Pfadzurück und wird gegen die heiligen, inneren Gesetze seines Lichtordens nicht sündigen.
Möge das Gewissen den Lichtsohn durch die Worte beleben:
"Lux Roseae Crucis: Ich erkenne Dich, Herr!"
Möge seine Intuition ihn ständig vorwärts drängen durch die Worte: "In Deine Hände befehle ich meine Seele, o Herr!"
Dieses sei Ihr Leben!