Die Gralsburg

Die Gralslegende ist eine Überlieferung aus der Zeit vor unserer Zeitrechnung. 

Es dürfte Ihnen vielleicht bekannt sein, daß die Gralslegende, mit der darin enthaltenen Hauptfigur von König Artus, auf vielerlei Arten übersetzt, nacherzählt und ausgelegt wurde. 

Das Bestreben der Historiker und vieler Forscher, das Mysterium des Grals zu entschleiern, allenfalls historisch zu fundieren, führte zu keinem groflen Ergebnis. Bestenfalls gelangte man zu dem Schluß, daß König Artus und seine Ritter der Tafelrunde Figuren waren, die der Menschheit vorangingen in edlem, mutigem und vor allem humanem Streben. 

Es ist jedoch mit dieser Legende viel mehr verbunden. 

Die ersten aufgezeichneten und verbreiteten Erzählungen über den Gral machten die Runde im Mittelalter. Der Ursprung dieser Legenden verliert sich jedoch in einer dunklen Vergangenheit, da viele symbolische Abenteuer auf eine vorchristliche Zeit hinweisen. 

Wie der weise Merlin, der Letzte der Bruderschaft der Druiden, in Verbindung gestanden haben muß mit all den vorangegangenen Druidenpriestern, die eine universelle Lehre predigten, von welcher jedoch die heutige Menschheit keine Kenntnis mehr hat. 

Um die Gralslegenden zu verstehen, muß man zuallererst von dem Standpunkt ausgehen, daß die christliche Lehre, wie wir sie heutzutage kennen, ein Ausfluß einer uralten Religion ist, die bereits bekannt war bei der Erschaffung der Welt. 

Die Historiker können auch nicht den zweifelhaften Ursprung der Bibel beweisen. 

Wissen Sie, daß viele Erzählungen, Erlebnisse und Gleichnisse aus unserer Bibel zurückzuführen sind auf östliche Lehren, vor allem buddhistische Lehren, bis hin zu den griechischen Mythen und Ägyptischen Weisheiten? 

Daß auch der Lebensweg von Jesus dem Herrn auf vielen, wenn nicht allen Stellen zu vergleichen ist mit denselben Erlebnissen der alten mythischen Figuren, Weisen und legendären Personen? 

Daraus ergibt sich, daß die Erzählungen über Jesus den Herrn basiert sein müssen auf einer sehr alten Vergangenheit, auf einer universellen Sprache, die durch die Jahrhunderte von allen Völkern gesprochen wurde. 

So ist es auch mit den Gralslegenden. 

Die Lehre, die in diesen Legenden verborgen liegt, weist auf die universelle Sprache hin, welche viele hervorragende Botschafter der Menschheit gesprochen haben und welche nicht nur verborgen liegt in der christlichen Lehre der modernen Zeit. 

In Deutschland war es Wolfram von Eschenbach, der die Gralslegenden übersetzte, auf seine eigene Weise ordnete und als einen Roman der Welt bekannt machte. 

In Frankreich war es Chrétien de Troyes, der diese Legenden übersetzte, und zwar aus einem Buch, das ihm einer Erzählung zufolge, Graf Philip von Flandern zur Verfügung stellte, und diese, als sei sie die einzige Übersetzung der alten Erzählungen, der Menschheit anbot. 

In England war es Sir Thomas Malory, der der Ehre teilhaftig werden wollte, die authentischste Übersetzung der Legenden gemacht und eine authentischste Sammlung der Gralslegenden besessen zu haben. 

Dennoch sind die ursprünglichen Erzählungen in England und Frankreich gleichzeitig zum Vorschein gekommen, wahrscheinlich anhand der Angaben und mündlichen Überlieferungen der Kreuzfahrer, die den Legenden im Osten begegneten. 

Die Lehre, die darin enthalten ist, muß somit eine östliche sein, die mit der alten Druidenlehre übereinstimmt, welche ebenfalls östliche Ansichten enthält. 

Es ist eigentlich insgesamt kein nachweisbarer Ursprung für die Geburt der Gralslegenden zu finden, da die religiösen Lehren von Ost und West sich in jeder mystischen Andeutung miteinander verweben. 

Im Mittelalter haben die Schreiber ihr Möglichstes getan, um von all den Rittererzählungen, den unglaublich erscheinenden Abenteuern und der wunderbaren Gralserscheinung ein glaubwürdiges Ganzes zu machen. 

Sie paßten alle Abenteuer ihrer Zeit an, färbten sie mit einer westlich christlichen Brühe und boten sie der Menschheit an als die Überlieferungen von König Artus und seiner edlen Tafelrunde, welche gegründet wurde auf Anweisung von Merlin, und von wo einige Ritter auf die Suche nach dem Gral gingen. 

Wer schließlich diesen Gral fand, ist immer noch ein Rätsel, was jedoch mit einigen oberflächlichen Worten von der Hand gewiesen wird. Manche sagen, daß Perceval den Gral fand, andere meinen, daß Galahad diese Ehre zuteil wurde und wieder andere meinen, daß es die Gralsritter Gawain oder Bors waren. 

Die Lösung ist jedoch in den Gralslegenden selbst zu finden, wenn man die allerältesten Überlieferungen zu Rate zieht und sich den Erzählungen von einem mystisch-religiösen Standpunkt nähert. 

Nimmt man einmal den Schlüssel zur Hand, der in der gnostisch-wissenschaftlichen Anschauungsweise verborgen liegt, dann wird man zu einer selbstverständlichen Lösung gelangen. 

Chrétien de Troyes hat seine Gralsgedichte nicht beenden können, andere haben es für ihn getan, doch nach dem  Erscheinen seines Werkes entstand ein wahrhafter Gralsrausch in vielen Ländern Europas. 

Über die ganze Welt wurde König Artus bekannt als der edle, mutige, gerechte und gute König, es gab von Küste zu Küste keinen Menschen, der sich mit ihm messen konnte. 

Zeichnungen erschienen, die die Gralssymbole wiedergeben sollten und Gelehrte aller Zeiten stürzten sich auf das große Gralsmysterium, das keinen Halt bietet jenen Menschen, die auf der Suche sind nach weltlichen Beweisen, und so erhoben sich nacheinander die Gralsburgen, eine jede verteidigt von ihren eigenen Anhängern. 

Wir kennen die Burg von Montségur in den Pyrenäen in Südfrankreich als die Gralsburg, speziell für die Anhänger von Wolfram von Eschenbach und von Rudolf Steiner. 

Dann gibt es die Gralsburg von Montserrat in Spanien, welche viele französische Anhänger hat und die Ruine der Burg von Vic de Sos, die auf dem Berg Montréal lag und worin man noch die Reste einer Zeichnung findet, welche die Gralssymbole andeutet. 

Ferner kennt man in England die Abtei von Glastonbury, wo Joseph von Arimathia mit dem Gral begraben sein soll und wo ebenfalls Artus seine letzte Ruhestätte gefunden haben soll. 

Glastonbury würde dann als die Stelle gelten, wo einst die Inseln von Avalon gelegen haben sollen, die solch eine wichtige Rolle in den Gralslegenden spielen. 

Diese Inseln von Avalon gelten als die spirituelle Ausweichstelle, wohin Merlin ging, als seine Aufgabe erfüllt war, wohin Artus wollte, als seine Stunde gekommen war, und wohin, wie man sagt, Joseph von Arimathia den Gral brachte, den Becher, worin er das Blut von dem am Kreuz sterbenden Christus aufgefangen haben soll. 

Für die einen ist dieser Gral der Abendmahlskelch, aus dem Jesus trank, für andere gleicht er einem seltenen riesigen Smaragd, welcher das Blut von Jesus jenen zeigt, die dazu würdig sind, für wieder andere ist der Gral ein mystischer Stein, den niemand kennt, der jedoch die Kraft besitzt, alle Krankheiten zu heilen und allem Unheil vorzubeugen. 

Man sieht, daß der Gral selbst Zweifel aufkommen läßt über seine geschichtliche Wirklichkeit. 

So wird ebenfalls berichtet, daß auf dem Montségur dieser Gral verborgen war, und in der Nacht des Verrats, als die Burg zu fallen drohte, durch einige Ritter fortgebracht wurde. 

Gleichartige Erzählungen machen die Runde über die anderen Burgen. 

Wenn auch eine Flut von Beweisen das Fundament für jede Erzählung bildet, so bleibt der Gral dennoch eine unantastbare Mythe inmitten der Sucher stehen, und es ist noch niemandem gelungen, diese Mythe aus ihrer Unwirklichkeit zu erlösen. 

Was nicht besagen will, daß diese Mythe auf Unwahrheit beruht. 

Daher ist es nötig, all diese Gralslegenden auf eine spirituelle Ebene zu verlegen und von dort aus aufs neue zu untersuchen. 

Es ist niemals die Absicht dieser Gralslegenden gewesen, die ganze Menschheit auf die Suche zu schicken nach einem goldenen oder kristallenen Becher, den Jesus einst gebrauchte, oder den Joseph von Arimathia bewahrte, oder nach einem Stein, den die Griechen ängstlich hüteten in einem unterirdischen Raum. 

Vielmehr war es die Absicht, die Menschheit mittels der Gralslegenden zum Suchen anzuspornen nach einem Ziel, nach einem Auftrag, nach einer erhabenen Aufgabe. 

Die Belohnung des Gralsritters bestand nicht darin, daß er den goldenen Becher anschauen oder die Mahlzeit einnehmen konnte, die dieser Becher ihm vorsetzte, auch nicht, daß er aus dem heiligen Becher trinken durfte. Seine Belohnung war, "daß er - durch den Gral blickend - den Anfang und den Ursprung  aller Dinge zu sehen vermochte", was so schön in einer der allerältesten Versionen der Gralslegenden aufgezeichnet ist. 

Daß man mit aller Macht auf die Suche gegangen ist nach der legendären Gralsburg, oder besser "nach der Burg der Abenteuer", kommt daher, daß der Mensch nun einmal stets einen Beweis im Stoff haben will für die Dinge, die er nicht sehen oder anfühlen kann. 

Ein wissenschaftlich orientierter Mensch ist nicht einfach bereit, eine Legende als Wirklichkeit anzunehmen, wenn er sie nicht in der Materie beweisen kann. Dort, wo die Legende aufhört eine Legende zu sein und zu einem Ereignis wird, ist sie akzeptierbar für die ganze Menschheit. Sofern der Mensch etwas mit seinem eigenen Maßstab messen kann, dann ist er bereit, die entdeckte Wahrheit anzunehmen, aber weiter geht er nicht. 

Solange der Gral dargestellt werden kann als eine Reliquie, als eine Materie, die man anfassen kann, ist man geneigt, die Erzählungen, die sich um die Reliquie ranken, anzunehmen. 

Wenn man aber behauptet, daß diese Reliquie nicht besteht, ja, daß es selbst zweifelhaft ist, ob Jesus jemals aus einem Becher getrunken hat, dann stürzt die ganze tastbare Welt um den Menschen ein und weist er alles ab. 

Die Burgen, die heute als die Gralsburgen gelten, waren Orte, in denen das spirituelle Leben durch viele sehr konsequent ausgetragen wurde. 

Um all diese Burgen ranken sich Legenden über Leiden, Opfer und Überwindung. 

Aber es ist der romantische und vor allem materielle Geist der Menschheit, der diese Burgen mit dem Gral verbindet. 

In den allerältesten Legenden ist es nicht dieser Becher, der das Ziel des Suchens ist, sondern ein Stein, der der Menschheit unbekannt ist, und welcher eine Andeutung ist für den so bekannten Mystischen Stein oder Stein der Weisen. 

Dieser Stein ist es, der das Ziel der mittelalterlichen Rosenkreuzer, der Kabbalisten, der Pythagoräer und der Anhänger von Hermes Trismegistos war. 

Durch die ganze Menschheitsgeschichte ist es dieser Kubische Stein, welcher das Ziel allen spirituellen Strebens ist. 

Die Ritter der Tafelrunde bildeten eine Bruderschaft, die auf dem Fundament der uralten Druidenbruderschaft gegründet wurde und deren Ziel es war, die höchste spirituelle Ansicht in ihrer Mitte zu verwirklichen. 

Ihr Bestehen ist geschichtlich nicht zu beweisen, obwohl sich auch hier Legende und Geschichte vermengen. 

Das Wesentliche ist, daß durch Merlin die Botschaft des Heils dem König Artus bekannt gemacht wurde - wir lassen in diesem ersten Kapitel die Bedeutung des Königs Artus dahingestellt -, worauf der Pfad der Befreiung durch viele symbolische Ereignisse in den Rittererzählungen in den Legenden festgehalten wurde. Es gibt auf der Welt keine einzige Burg, in der der Gral gefunden werden kann, wenn der Mensch nicht selbst für würdig befunden wird, den Gral zu suchen. 

Dann wird er, innerlich weiser geworden, die äußerliche Gralsburg fahren lassen, um die spirituelle Burg zu suchen, die weder eine Form besitzt noch an einen bestimmten Ort gebunden ist. 

Man denke hierbei - wer die Gralslegenden kennt - an Lancelot. Er betritt die Gralsburg, ist aber nicht imstande, den Gral anzunehmen, zu verwirklichen, so daß er die Burg wieder verlassen muß. Dann kann man lesen: Als Lancelot sich umkehrte, um die schöne Burg der Abenteuer noch einmal zu sehen, war nichts mehr vorhanden als eine einsame öde Landschaft. 

Es ist unsere Absicht, Sie weiter einzuführen in die Geheimnisse der Gralslegenden - wie sie aufgezeichnet wurden in den ältesten britischen und französischen Überlieferungen -, damit Sie sehen können, daß die Gralslegenden dieselbe Wahrheit enthalten wie die christliche Bibel, und daß diese Überlieferungen bestanden haben seit der Grundlegung der Zeiten. 

Jeder, der nach Wahrheit und geistigem Leben strebt, muß imstande sein, Abstand zu nehmen von jeder Form, von jeglicher Materie, denn wer die Materie mitnehmen will auf seinem spirituellen Gralszug, wird nie imstande sein, die Wirklichkeit des Grales zu entdecken. 

Daher muß der Mensch, der die tiefe Weisheit der universellen Sprache ergründen und durch die Verwirrungen hindurchdringen will, die durch jahrhundertelange Erwägungen über das Mysterium entstanden sind, Abschied nehmen von jeder bestehenden Gedankenform und neutral und offen sein gegenüber einer neuen Sichtweise. 

Denn wer den Geist an menschliche Maßstäbe und Assoziationen binden will, besudelt den Geist und wird nicht mehr imstande sein, ihn vom Stoff zu trennen. 

Der spirituelle Sucher muß akzeptieren, daß es in Wirklichkeit nur einen universellen Geist gibt, der in einer Weisheitssprache niedergelegt ist. 

Das Mysterium des Grals verleiht auch Ausdruck dieser universellen Lehre, doch die Kurzsichtigkeit der erdgebundenen Menschheit machte die schönste der Überlieferungen zu einer mittelalterlichen und christlichen Rittererzählung. 

Wie es mit allen sehr alten Überlieferungen geschehen ist, so wurde auch ihre große Weisheit von oberflächlichen Werten bedeckt, damit die Größe der Heilslehre nicht zu einer verkümmerten Menschheit hindurchdringen könne. 

Was auch ausgezeichnet gelungen ist, denn bis heute wurde die Frage des Menschen besänftigt mit den Erzählungen rund um die "Gralsburgen", den "Gralsbecher" und den "guten König Artus". 

Das Gütestreben der ganzen Welt wird aufgefangen in dem legendären König Artus, der Personifizierung aller Güte. 

Der übergroße Teil der Menschheit gibt sich damit zufrieden, bis auf den Einzelnen, der sich auf die Suche begibt nach tieferen Werten. 

Doch das Geheimnis des Grals wird nur dem entschleiert, der den Weg der Vorbereitung zur Gralssuche gegangen ist, denn niemand wird unwürdig in das Geheimnis des Grals eintreten. 

Möge es auch uns gegeben sein, dieses wunderbare Mysterium des Grals zu durchschauen und ihm Einzug zu gewähren in das eigene Wesen.

©1970-2013 Henk und Mia Leene