Merlin, der Magier hinter dem Thron von König Artus

Wenn wir über Merlin, den Zauberer, sprechen wollen, der Ihnen aus der Gralslegende wohlbekannt ist, dann wollen wir dies auf eine völlig neue Weise tun. 

Merlin wurde im Laufe der Geschichte immer als ein Schwarzmagier angesehen, als eine teuflische Kraft, auf dessen Basis Artus seine großen Überwindungen davontragen konnte. 

Er paßte absolut nicht in die christlichen Reformen, welche die Gralslegende im Laufe der Zeit erfahren hat. 

Manchmal hat man ihn der persönlichen Überzeugung des Gralserzählers angepaßt, ihn zu einem alten christlichen Weisen gemacht, doch Merlin, das Mysterium hinter dem Thron, war keine Figur, die in die Ideen des unspirituellen Menschen paßte, in die Gedankenwelt jener, die alles in die horizontale Ebene der Welt niederziehen wollen. 

Merlin war eine Figur, die von den Erinnerungen an eine uralte Bruderschaft umringt wurde: nämlich die Bruderschaft der Druiden, die Botschafter, die ebenfalls im Laufe der Zeit mit allen möglichen Ideen von allerlei Sorten Menschen behängt wurden. 

Bis heute ist König Artus die Hauptfigur in den Gralslegenden geblieben. 

Er ist zu einer Figur geworden, um die sich alles dreht, der edle König, der liebevolle Fürst, der Mann, der zu einem Vorbild für allerlei Völker der Erde wurde. 

Merlin ist im Hintergrund geblieben als eine dunkle Figur, mit der man lieber nicht viel zu tun haben will, aus dem einfachen Grund: weil man seine Weisheit, das, was er überbringen will, nicht begreifen kann. 

Zuweilen erzählt man, daß er Artus den Auftrag erteilte, eine Tafelrunde von zwölf Rittern zu gründen, nach dem Vorbild der Abendmahlstafel von Jesus. 

Nichts ist weniger wahr. 

Merlin, der alte Weise, war der letzte übrig gebliebene Bruder eines reinen Druidentums. 

Zu seiner Zeit, als man die Gralslegende mitbrachte, also im fünften Jahrhundert, war das junge neue Christentum mit allerlei mondsüchtigen Elementen durchdrungen, bis tief nach England hinein. 

Hie und da gab es noch Reste von Gruppen zögernder "Heiden", d.h. von Druiden und allerersten Christen, welche die neue Lehre aus Palästina direkt mitgebracht hatten. 

Die allerersten Christen waren rein in ihrer Überzeugung und völlig offen hinsichtlich ihres vermeintlichen oder aufgetragenen Auftrags: die Verbreitung der Botschaft von Jesus. Es waren edle, hochstehende Menschen, die aus Palästina vertrieben wurden, und lebten wie wahre Apostel: in Einfachheit und Bescheidenheit. 

Als sie auf den druidischen Orden, den keltischen Orden stießen, begrüßten sie diese Weisen als Freunde, als Brüder, denn kein Druide zeigte Unverständnis diesen Neulingen gegenüber, die  der Meinung waren, eine junge, unbekannte Botschaft zu verbreiten.  Sie nahmen den "neuen Glauben" an, vermengten diese Botschaft mit der ihren und vereinigten sich mit den Aposteln. So wurden die "Culdees" geboren. 

Es waren Gruppen von Menschen, die in Abgeschiedenheit lebten und gemeinsam, in Einheit, eine Botschaft überbrachten. 

Doch die Druiden wußten, daß ihre Zeit vorüber war, daß sie sich der neuen Zeit übergeben mußten: der Zeit des Christentums, unter dem Einfluß der Botschafter aus Israel. 

So trat England in eine Periode des Kampfes ein; dem Kampf zwischen dem Volk und den neuen Aposteln, jedoch ein Kampf ohne Blutvergießen. 

Der blutige Kampf wurde in dem Augenblick geboren, als irgendwo in der Welt ein kirchlicher Körper meinte, die allumfassende Macht zu haben, die Botschaft Jesu zu verbreiten. 

Solch eine Macht muß gefestigt werden und sich behaupten können, was man mittels des Schwertes tut. 

Eine weitere Reihe von Aposteln, denen ein ganzes Heer Soldaten vorangegangen war, drang in England ein. 

Der Orden der "Culdees" wurde in Blut und Tränen erstickt, völlig mit dem Boden gleichgemacht. 

Die hölzernen Kapellen wurden abgebrannt, edle Weise, die allerersten Christen, die in dieses Land aus innerlichem Drang kamen, wurden ermordet und verbannt. 

Es dauerte viele Jahre, ehe das neue Christentum imstande war, den Ruf der Druiden sowie der allerersten aufrechten Christen zu töten. 

Es dauerte noch Hunderte von Jahren, ehe Großbritannien, dem die Gralslegende übertragen worden war, die Macht von Rom erkannte, die ausschließlich auf Überwältigung beruhte. 

So standen die Dinge, als Merlin seinen ersten Schritt in die Welt setzte. 

Wir nennen ihn Merlin in Übereinstimmung mit der Gralslegende, doch ist es ein symbolischer Name, den jeder Botschafter tragen könnte. 

In ihm nahmen alle Druidenbrüder Gestalt an: jene, die Platz machen mußten für eine ganz andere Zeit, die christliche Zeit, die Zeit der äußerlichen Religionen. 

Denn Merlin ist keine wirklich bestehende Person, er ist eine legendäre Figur. 

Einst, im fünften Jahrhundert, mußte die Botschaft der Wahrheit von den Druiden weitergereicht werden, damit diese universelle Wahrheit nicht untergehe, nicht zertreten werde vom Materialismus des äußerlichen Christentums. 

Der Ruf einer Neuen Botschaft machte die Runde: die Botschaft von Jesus Christus. 

Der Ruf der Druiden mußte schweigen. 

Seither wurde die Weisheit der Druiden in Legenden verborgen. 

Es waren östliche Legenden, Legenden, die von einem Mystischen Stein handelten, von einem Wunder, das alle erfahren konnten, die diesen Stein finden würden. So wurden die Legenden gefangen in der Zeit. 

Der Pfad, den Stein finden zu können, die Methode, wurde der Begrenzung der Zeit preisgegeben. 

Diese Methode wurde von Mund zu Mund weitergegeben, bis die Botschaft der Wahrheit im Mittelalter von den Kreuzfahrern entdeckt wurde als ein verborgenes Geheimnis aus dem Osten. 

So kam die alte Legende nach Frankreich. Und so ging sie, dem irdischen Licht entgegen, nach England. Denn dort wurde über diese Legende nur in jenen Teilen gesprochen, wo die Erinnerung an die Druiden noch stark lebte. 

Doch plötzlich wurde sie in der ganzen Welt bekannt, ihre Geheimnisse, ihre verborgenen Schätze wurden aufgezeichnet. 

All diese Überlieferungen enthielten die Gedanken, die Eindrücke und die Überzeugung ihrer Nacherzähler. 

Die Gralslegenden wurden geboren; ein äußeres Kleid, der Zeit angepaßt, wurde über sie geworfen. Denn in dem Unsichtbaren wachen die Hierophanten über die Botschaft des Heils, verhüten sie, daß profane Hände diese Wahrheit in Lügen verwandeln. 

So trat König Artus als ein äußerlicher Held in die Welt, wie auch Jesus zu einem äußerlichen Vorbild geworden ist. 

Auch Merlin will man zu einer Personifizierung eines Priesters der äußerlichen Christenheit machen. Das wird aber nicht gelingen, solange die Legenden über Merlin auf seine Herkunft verweisen.

Eigenartigerweise gleichen die Legenden in vieler Hinsicht der Geschichte von Jesus. Denn Merlin wurde aus einer Jungfrau geboren. 

Und diese Jungfrau, geworden zu einem Schandfleck in der Gesellschaft, wurde von der irdischen Gerechtigkeit verfolgt, weil sie sagte, daß sie schwanger sei von einem Inkubus, d.h. daß sie von einem Naturgeist befruchtet war. 

Wahrscheinlich werden zynische Intellektuelle diese lächerliche Behauptung von der Hand weisen, doch wir müssen die Legenden um Merlin aus der Sicht der Zeit betrachten, in der sie geboren wurden, und zwar um das erste Jahrhundert nach Christus. 

Das Druidentum unterhielt einen engen Kontakt mit den Waldgeistern, den Baumgeistern, den Elfen. 

Ebenso wie bei Maria, der Mutter von Jesus, erzählt man von Merlins Mutter, daß sie eine Jungfrau war, die durch ihren vorbildlichen und zurückgezogenen Lebenswandel auffiel. 

Merlin wurde in der Gefangenschaft geboren, wie Jesus im Stall, gehüllt in leinene Tücher. 

Als dann die Menschen sahen, wie schön das Kind war, wie weise sein Angesicht und wie "seine Stirn leuchtete wie ein Stern", meinten sie, daß er seine Bestimmung in der Welt suchen müsse. 

So wurden Merlin und seine Mutter wieder freigelassen und wir begegnen dem Kind Merlin erst als es sieben Jahre alt ist. 

Sehen Sie hier die typische Übereinstimmung mit Jesus? 

Als Merlin sieben Jahre alt geworden ist, geschah etwas, das sein Leben völlig veränderte. 

Dann erst zeigte er der Welt, wie er seinem Namen: Merlin, "er, der mit den Schlangen lebt", Ehre macht. 

Denn aus diesem Namen spricht bereits Merlins Vorbestimmung. 

Es geht hier nicht darum, daß er ein Magier ist, imstande, mit den Schlangen umzugehen, wie von vielen alten Brüdern erzählt wird: hier weist man auf die Tatsache hin, daß Merlin ein Wesen ist, das die Schlange der Weisheit trägt. 

Eine Seele, die den Stab von Hermes in sich selbst befestigt hat. 

Die beiden Schlangen von Gut und Böse, von der rechten und linken Seite der beiden Ansichten der irdischen Welt, hat er überwunden und untergehen lassen in der Bekrönung des Siegels der Weisheit.  

Merlin ist somit ein Wissender. 

Im Alter von sieben Jahren, d.h. nach seinem Durchzug durch die Gebiete der Berührung durch den Siebengeist, zeigt er der Welt, wer er ist. Gerade in der Zeit als Merlin sieben Jahre alt geworden ist, so sagt die Legende, regierte in der Bretagne ein Fürst, genannt: Vortigern. 

Dieser Vortigern war ein schlechter Fürst, stets besorgt, man könne ihn absetzen, und vor allem fürchtete er das Kind Uter Pendragon, das ein größeres Anrecht auf seinen Thron hatte. 

Er verbannte diesen Uter und wollte um ihn einen Turm bauen, damit niemand das Kind holen könne, um sein Recht auf den Thron für sich zu beanspruchen.

Dieser Turm konnte aber nicht errichtet werden, denn stets als man einige Lagen Steine aufeinander gesetzt hatte, stürzte er durch eine unbekannte Ursache ein. 

Dann sagten die Magier, die um den Thron von Vortigern waren, daß man die Steine befestigen müsse mit dem Blut eines siebenjährigen Kindes.  Sie verstehen, wie es weitergeht. 

Einige Abgesandte reisten durch das Land und entdeckten spielende Kinder, darunter auch Merlin. 

Sie warfen ein Auge auf ihn, doch ehe sie etwas sagen konnten, trat das Kind Merlin auf sie zu und sagte: "Ich bin derjenige den ihr sucht." 

So ging er mit den Rittern und löste vor Vortigern das Rätsel des einstürzenden Turmes: "König, der Turm ist gebaut auf zwei Drachen, einem roten und einem weißen. Durch das Gewicht der Steine drehen sie sich im Schlaf um und beginnen zu kämpfen." 

Als der König befahl, die Worte von Merlin zu untersuchen, entdeckte man unter der Erde zwei Drachen, einen roten und einen weißen, abscheulich anzusehen. Sofort warfen sie sich aufeinander. 

"Nach drei Tagen wurde der Kampf beendet, als der weiße Drache solch eine gewaltige Flamme aus seinem Rachen spie, daß dadurch der rote Drache völlig verbrannt wurde. Danach schlief der weiße Drache ein und starb ebenfalls." 

In dieser Legende sehen wir einen Abschnitt der Lehre der Druiden, jedenfalls ihr Urteil über die Zeit, die gekommen war. 

Der weiße Drache: das Druidentum, angegriffen vom roten Drachen: die Horden der Christen, ist gestorben, trotzdem er die Äußerlichkeit des neuen Christentums mittels des Höllenfeuers der universellen Wahrheit (gefaßt in eine Legende) getötet hat.  

Der weiße Drache siegt, obwohl er stirbt, sein Körper wird zu Staub.  Erging es nicht so der Bruderschaft der Druiden? 

Ihre Orden wurden zerstreut, ihre Gemeinschaften auseinander gerissen, doch die Welt hat ihr Höllenfeuer gesehen, sie hat die Überwindung des roten Drachens mittels der verborgenen Wahrheit der Gralslegende gesehen. 

Wird bis heute nicht die Gralslegende als eine der schönsten und tiefsten der Welt betrachtet? 

Wissen jene, die ihr Geheimnis nicht fassen können, auch nicht, daß diese Legenden eine Lehre enthalten? 

Diese Lehre wird immer den Sieg davontragen, ungeachtet dessen, daß das äußerliche Kleid, das sie tragen muß, durch die Zeit und die Verfolger beschmutzt und vernichtet wird. 

So überbringt Merlin mit sieben Jahren auf kurzgefaßte Art die Botschaft der Druiden, ihr Schicksal und das Shicksal der Wahrheit den Menschen. 

Nach dieser Erzählung kommt Merlin dann an den Hof und - wieder nach vielen merkwürdigen Ereignissen, die teils auf dem Volksmund, teils auf Wahrheit beruhen - lernt Artus kennen. 

Denn auch Artus wird, als Stoffgestalt, der Geschichte preisgegeben, wohin er jedoch nicht paßt, denn er stellt für Merlin eine "Gabe Gottes", ein "zufälliges" Geschenk dar, das ihm in  der "Grotte" durch das Wasserelement gebracht wird. 

Und auch die Begegnung zwischen Merlin und Artus ist voller mystischer und symbolischer Ereignisse. Es ist schwierig, die Wahrheit, die unter dem Stoff der Äußerlichkeit verborgen liegt, zu befreien, denn sie ist nicht für alle bestimmt. 

Sie gilt nur für diejenigen, die durch innere Reife die Sprache der Symbole verstehen und kein Bedürfnis an äußeren Formen haben, um ihren Glauben festzulegen. 

Merlin, der Meister der Schlangen, empfängt Artus, um durch ihn eine wunderschöne Legende das Licht erblicken zu lassen.

©1970-2013 Henk und Mia Leene