Parzival, der Ritter der Selbstverwirklichung

Wenn wir uns, um uns weiter in die Gralslegenden zu vertiefen, Parzival zuwenden, dem Gallier, dann müssen wir von vornherein feststellen, daß wir diesen Ritter als Sucher betrachten, welcher mittels eines okkulten Weges versucht, den Gral zu erreichen. 

Womit wir nicht sagen wollen, daß Parzival ein irregeführter und gescheiterter Mensch wäre, doch er vertritt jene Gruppe von Suchern, welche, direkt neben dem Quell stehend, sich verführen lassen, um mittels des Vermögens des Gehirns den Stein der Weisen zu entdecken. 

Dies ist eine Methode, welche seit undenklichen Zeiten von vielen Millionen erprobt wurde. 

Die fünf Ritter, die den Gral erreicht hatten, darunter Parzival, stammten aus einem bestimmten Lebenskreis: sie wurden alle umgeben von einem symbolischen Hauch geheimnisvoller Figuren und Mythen. 

Die Legende berichtet, daß Parzival der jüngste Sohn einer Witwe war, er seine elf Brüder im Kampf verlor und seine Mutter mit ihm und zwölf Arbeitern wegzog, um ein neues Zuhause zu suchen. 

Sie kamen dann in den Wald Gütée, den verlassensten Ort der Welt, wo sie zusammen eine Wohnung bauten. Danach folgen die bekannten Ereignisse, wie die Begegnung mit den fünf Rittern im Wald, Parzivals Weggang zum Hof von Artus, obwohl es ihm seine Mutter verbat. 

Wir sind hier im Feld der Sucher angekommen: den verlassensten Ort der Welt, Parzivals Entschluß nach seiner Begegnung mit den fünf Rittern, ebenfalls Ritter zu werden. 

Er geht auf die Suche nach seinem Ziel unter der Einstrahlung des fünfzackigen Sterns, oder der Führung durch den Stern von Bethlehem, oder seiner mikrokosmischen Rose. 

Wir begegnen Parzival am Beginn seines Sucherweges, wo von ihm gesagt wird, daß er der jüngste Sohn der Witwe ist. 

Dies ist ein Hinweis auf seinen reifen inneren Zustand. 

Die Möglichkeiten zum Erreichen des Grals liegen in ihm beschlossen. 

Als "Sohn der Witwe" wird er in die Geschichte eingehen als "ein Gerufener, als ein Mensch, der das feurige Zeichen auf seiner Stirn trägt". 

Alle Söhne der Witwe aus den Legenden sind Menschen, die einen bestimmten Weg zu gehen haben, Menschen, die einen göttlichen Funken in sich tragen und somit zur Nachhausereise gerufen werden. 

Parzival ist der jüngste Sohn, seine elf Brüder sind ihm im Tod vorangegangen, so daß seine Mutter befürchtet, auch er könne im Kampf sein Leben lassen. 

Daher ist sie sehr betrübt, daß Parzival trotz ihrer Warnungen und Klagen ihr Haus verläßt. 

Das bedeutet, daß Parzival, sich sehnend nach dem Erreichen des Grals, sein "altes Zuhause", vom Feind völlig vernichtet, verlassen muß, um irgendwo anders, mitten in der Verlassenheit, ein neues Zuhause zu bauen, mit Hilfe seiner Mutter und zwölf Arbeitern. 

Wir stehen hier einer erneuten Einsenkung einer sich sehnenden, suchenden Seele in eine stoffgeborene Persönlichkeit gegenüber: dem Parzival, der vielleicht an der Vollendung mitwirken kann. 

Arbeitend unter der Einstrahlung des Mutterfeldes, der heiligen Geistkraft, mühen sich die Arbeiter beim Bauen des neuen Zuhauses ab, machen die Felder bereit und dann kommt der Tag, an dem sich Parzival gezwungen fühlt, selbst seinen Weg zu entdecken. 

Wie wir bereits gesehen haben, bedeutet der Name Parzival "Par soi même", durch sich selbst. 

Wir sehen dann auch, wie Parzival danach trachtet, sich durch verschiedene Methoden selbst zu behaupten, seine Kenntnis zu erweitern, seine Erfahrung zu vervollständigen. 

Wir lesen ebenfalls, wie er viele Fehler gegenüber seines Seelenrufes begeht, wie den Raub des Ringes von der Jungfrau, was auf seine Neigung hinweist, sich selbst zu erhöhen mittels einer Kenntnis aus zweiter Hand. Er raubt die Schätze der Seele und gebraucht sie zu Unrecht. 

Dieses Ereignis mit der Jungfrau im Zelt verweist auf eine Begegnung des Parzival mit seinem inneren Seelenvermögen, er steht seinen inneren Schätzen gegenüber und weiß nicht, was er mit ihnen anfangen soll. 

Die Jungfrau jedoch, so steht geschrieben, sehnte sich danach, sich mit ihm zu vereinigen. 

Wenn in einer Legende von einer "Jungfrau" oder einer "Magd" gesprochen wird, dann wird immer auf die Seele, oder das Seelenwesen, eine jungfräuliche Kraft hingewiesen, die im Menschen schlummert, um durch oder mit Hilfe dieses Menschen ihr Ziel zu erreichen. 

Wir können dann auch die Suche des Parzival nach dem Hof von Artus, wo er zum ersten Mal den Gral sehen wird, als einen mühsamen Gang des Feuermenschen sehen, der durch seine eigenen Vermögen siegen will. 

Es gelingt ihm nicht, solange er nicht die richtige Waffenrüstung empfangen hat, wie Parzival, der vom "alten Ritter" einen Waffenrock aus dem Osten empfängt, damit er würdig vor König Artus erscheine. 

Doch er empfing diesen Waffenrock nicht eher als im sechsten Monat seines Aufenthaltes beim alten Ritter. 

Nun müssen wir bedenken, daß der "sechste Monat" auf den Erntemonat hinweist, den Monat der Jungfrau, denn hier erhält Parzival wieder eine Bindung mit dem Strahlungsfeld, dem Mutterfeld. (Der sechste Monat ist in der ursprünglichen astrologischen Mondberechnung der August.)  

Wenn wir über Parzival sprechen, so wollen wir vor allem die Seele mit ihm verbinden, die auf die Suche geht und mittels der Handlungen der stofflichen Persönlichkeit, die sie umfassen, reagiert. 

Wie wir Artus einen Kaintyp nennen, so können wir das auch bei Parzival tun. Er gehört ebenfalls zu der Gruppe gefallener Gottesfunken, die zurückkehren müssen zum leuchtenden Feuer. 

Wir sehen in den Gralslegenden die beiden Menschentypen dargestellt: Bors und Parzival, Abel und Kain, Feuer und Wasser müssen sich zusammenfügen. 

Dann sind noch Gawain und Lancelot da, die ebenfalls das Wasser- und das Feuerelement darstellen. 

Jene, die unter der Einstrahlung des Feuers auf die Suche gehen nach dem Gral, tun dies stets mittels der Selbstverwirklichung. 

Die Wassertypen wollen geführt werden, sie suchen ihre Befriedigung in dem Mystischen, sie sehnen sich nicht direkt nach Tätigkeit, doch philosophieren sie gerne über die ihnen übertragene Lehre. 

Deshalb sind die Erlebnisse der fünf Gralsritter stets anders, obwohl man Übereinstimmungen sieht zwischen den Abenteuern von Galahad und Parzival, weshalb man Parzival häufig als den Gralsritter ansieht. 

Der Gral erscheint jedoch erst dann, nachdem Galahad seinen Platz im Kreis der Ritter eingenommen hat, vorher hatte niemand je etwas von dem Gralsgeschehen gehört. 

Es ist verständlich, daß die Abenteuer der beiden obengenannten Ritter übereinstimmen. 

Beide suchen den Gral: Parzival unter Führung seines Hauptheiligtums, Galahad unter Führung seines Haupt- und Herzheiligtums. 

Parzival fehlen die Gefühlselemente, während die Feuerelemente in reichlichem Maße vorhanden sind. Gerade diese kämpferischen Abenteuer stimmen mit Galahad überein. 

In bestimmten Augenblicken stehen beide der Seele gegenüber, aber sie reagieren unterschiedlich. Bei anderen Rittern trifft man gleiche Abenteuer an. 

Der Pfad zum Erreichen des Grals bleibt derselbe, doch jene, die den Pfad betreten, drücken ihm ihren persönlichen Stempel auf. 

Jeder Mensch gelangt auf eine andere Weise auf den Pfad und reagiert auf seine eigene Art auf die verschiedenen Abenteuer, obwohl diese Abenteuer im großen und ganzen mit denen eines jeden Suchers übereinstimmen. 

Jeder Ritter, d.h. jeder reife, erfahrungsreiche Sucher, jeder Mensch, der bereit ist, den Pfad der Befreiung zu gehen, sieht den Pfad im Licht seiner eigenen Erfahrungen, die im Mikrokosmos beschlossen liegen, unter deren Einfluß die stoffliche Persönlichkeit zum Handeln übergeht. 

Parzival erreicht den Gralspalast, tritt ein und darf mit seinen Mitgenossen Galahad und Bors an der Tafel sitzen, welche der Gral für die Ritter bereitstellt. 

Er sitzt somit an der Tafel mit dem Fischerkönig, dem Repräsentanten der uralten helfenden Bruderschaft auf der Erde, er ist aufgenommen in die Kette der Eingeweihten, doch es ist Galahad, dem der Gral überreicht wird, um ihn mitzunehmen nach seinem ursprünglichen Zuhause. 

Parzival ist Mitbegleiter, er ist eine unentbehrliche Kraft, wie auch Bors eine unentbehrliche Kraft ist, zusammen müssen sie den Gral bewachen.  Nur von Bors und Parzival flankiert kann der Gral sein ewiges Zuhause erreichen. 

Parzival ist es nicht gegeben in den Gral zu schauen, "den Anfang und das Ende" zu sehen, wie es geschrieben steht, diese Gunst wird Galahad zuteil. 

Parzival bleibt stets an der Außenseite stehen, er kann wohl von den Gaben berichten, doch vermag er sie nicht zum eigenen Zweck zu verwenden. Er besitzt Kenntnis, er hat vieles erlebt und auf seine eigene Weise gelöst, dennoch darf er nicht in den Gral schauen und muß an den Hof von König Artus zurückkehren. 

Hier kam Parzival auf den höchsten Gipfel seines Erreichens, er weiß, daß der Gral in seiner Nähe ist, dennoch kann er ihn nicht berühren, noch in sich aufnehmen, er muß zurückkehren und es nochmals versuchen. 

Doch dann hat er gelernt. Er hat Bors Anwesenheit kennen und würdigen gelernt als eine unentbehrliche Kraft für die Gralssuche, die letztendlich im ursprünglichen Zuhause endet. 

Nun wird er im nächsten Leben, oder anders gesagt, nun wird die Seele in einer neuen Persönlichkeit danach trachten, auf der Basis von Parzivals Kenntnis und Bors Glauben, das Mysterium des Grals zu entschleiern. 

Wieviele Millionen gibt es auf der Welt wie Parzival, wie stark sind die Neigungen in der Persönlichkeit, um durch eigenes Vermögen das große Ziel zu erreichen? 

Wird aus diesen Neigungen nicht alles Leid und aller Schmerz geboren, worin die moderne Welt untergeht? 

Ist der Drang zur Selbstverwirklichung, zu Tat und Kenntnis, nicht die Ursache, daß der übergroße Teil der Menschheit, koste es was es wolle, weitermacht mit seinen Experimenten auf allerlei Gebieten? 

Wir sehen in Parzival "den Streber", die große, starke Persönlichkeit, die sich seiner eigenen Kraft bewußt ist und getrieben wird von einer starken Sehnsucht, das Ziel zu erreichen. Er weiß jedoch noch nicht, wo das Ziel zu finden ist, aber es schlummert in ihm ein vages, unüberlegtes Verlangen, wodurch er das Haus seiner Mutter verläßt und auf die Suche geht. 

Dann tritt in verstärktem Maße das Ichbewußtsein in den Vordergrund, das hie und da mit der Seele konfrontiert wird, deren Kräfte es angreift. 

Bis dann die Begegnung mit dem "alten Ritter" ihn die wahre Wirklichkeit erkennen läßt, seinen erbärmlichen Zustand, trotz seiner Prahlerei, seiner Kraft. 

Parzival, der selbstbewußte Sucher, bleibt ein Jüngling in den Augen des "alten Ritters", er ist ein Mensch, der nur das stoffliche Leben sucht, der das Zeitliche gebraucht, um dem Ewigen zu begegnen. 

Der "alte Ritter" macht diesen selbstbewußten Sucher mit dem "Waffenrock aus dem Osten" bekannt. Es ist die Kenntnis und die Weisheit, die im Zusammenhang steht mit der Ewigkeit und dem ewigen Licht. 

Die Kelten sagten, daß im "Osten" der Allgeist stets aufs neue geboren wird, von dort über die ganze Welt strahlt und alle erleuchtet und erwärmt, die ein Bedürfnis danach haben. 

Doch jene, die sich vom Osten abwenden, geben zu erkennen, noch kein Verlangen zu besitzen, um von der Strahlung des Allgeistes berührt zu werden. 

Nachdem Parzival diesen "Waffenrock aus dem Osten" angelegt hatte, veränderten sich seine Reaktionen, änderte sich seine Persönlichkeit. 

Er hatte eine neue Kenntnis erworben, obwohl sein altes Wesen noch  hie und da seinen Kopf erhob. 

Erst jetzt, nachdem er mit der "Waffenrüstung aus dem Osten" bekleidet war, wurde es ihm vergönnt, den Gral zu sehen, denn erst jetzt konnte er sich unter die Gralsritter zählen. 

Nun muß der selbstbewußte Sucher lernen, seine alte Kenntnis zu vergessen, seinen Drang zur Selbstbehauptung zu beherrschen und zu negieren. 

Es würde zu weit führen, all die Abenteuer von Parzival zu besprechen, doch jeder spirituelle Sucher wird sich selbst darin erkennen, wenn auch in ihm der Drang zum Erreichen lebt, wenn er in sich selbst die unaufhörliche Stimulanz zum Untersuchen, zu mehr Kenntnis entdeckt. 

Er ist ein Mensch, der nicht etwas nur vom Hörensagen annimmt. Er kann erst dann glauben, wenn er seinen Glauben bestätigt findet, doch dann ist es kein Glauben mehr, sondern eine Verwirklichung. 

So wird er weiterhin streben, während er vergißt, daß er ohne den "Glauben" - der eine Emotion des Herzens ist - den Gral nicht finden wird. Denn alles, was er erfährt, ist eine Wirklichkeit, die den Stoff berührt. Diese Ereignisse haben nichts mit der Evolution der Seele zu tun. 

Jede Erfahrung macht den Menschen reifer, doch die Seele bleibt jungfräulich, sie wartet nur auf den ritterlichen Arm, der sie befreien soll. 

Der Mensch darf nicht stehen bleiben bei diesen "ritterlichen Abenteuern", darf sich nicht in sie verlieren, wie es viele Gralsritter taten, er muß an seinen Auftrag denken. 

Jedes Abenteuer stößt ihm deshalb zu, um zum Ritter der Seele reif zu werden, seinen Arm zu stählen und seine Waffenrüstung stark genug werden zu lassen, um die Seele nach ihrem ursprünglichen Zuhause zurückzuführen. 

Auch in Parzival können wir uns wiederfinden, vor allem jene Menschen, die sich zu den "Untersuchern" zählen können. 

Ihnen droht aber das Risiko, daß der Gral, während sie ihn sehen, einem anderen überreicht wird, weil sie selbst noch nicht reif dazu sind. 

Der Weg des Parzival gleicht dem okkulten Weg, denn der Okkultismus grenzt an den Gnostizismus. 

Wer den Okkultismus ausübt, spielt mit dem Gedanken der Befreiung, hat Kenntnis genug, Kraft genug, Qualitäten genug, doch täuscht sich in seiner eigenen Kraft und seiner Bestimmung. 

Parzival muß Parzival vergessen um der Jungfrau zu dienen, der Okkultist muß sich selbst vergessen um der Seele zu dienen. 

Das ist der schwerste Auftrag für einen Menschen, der den Pfad der Selbstverwirklichung geht. Deshalb muß der "alte Ritter", der Helfer, ihn einige Zeit zu sich nehmen, in seine Obhut nehmen, damit dieser Mensch sich wieder übergeben kann an das führende Kraftfeld. 

Wunderschön ist der Weg der gefallenen Seele in der Parzivallegende beschrieben: zuallererst die Gefangenschaft in dem Mikrokosmos, dann die Gebundenheit an den Stoff, das Land der Einsamkeit und der Bruch mit ihrem Mutterfeld. 

Dann die verschiedenen Abenteuer, wo die Seele leidet und die Persönlichkeit ihre Erfahrungen macht: Parzivals Schmach am Hofe von Artus, seine Begegnung mit dem alten Ritter, um sich selbst in die Wirklichkeit zurückzurufen und die Seele wieder in Verbindung zu bringen mit dem stofflichen Menschen. 

Erst dann beginnt die Suche nach dem Gral. 

Es gibt in den Gralslegenden nur einige wertvolle Erzählungen, wie die Abenteuer der fünf Gralsritter, das Verhalten von Artus, das Verhalten von Merlin. 

Alle weiteren Ereignisse wurden im Mittelalter aufgezeichnet und von der Atmosphäre jener Zeit umgeben. 

Ein Ritter war in jener Zeit ein mutiger und unerschrockener Mann, umgeben von zahlreichen romantischen und kämpferischen Abenteuern. 

Doch zwischen den Zeilen finden wir die wunderschönen, schlichten Aufzeichnungen einer uralten Legende, welche auf die Erfahrungen und Schmerzen einer eingeschlossenen Seele hinweist. 

Dieser Seele müssen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden, denn sie ist die Ursache unseres Seins auf der Erde. 

Deshalb ist es wünschenswert, daß die Menschheit langsam aber sicher durchdrungen werde von der universellen Wahrheit der alten Legenden, damit sie wisse, was ihr Sinn auf der Erde ist. 

Mögen jene, die wissen, daß der Name Parzival, Par-soi-même, auch auf sie Anwendung findet, sich spiegeln in den Abenteuern von Parzival. 

Die Selbstverwirklichung ist die richtige Methode, wenn sie fundiert ist auf Glauben und Kenntnis, auf Herz und Haupt, auf Bors und Parzival. 

Möge diese Selbstverwirklichung in Ihnen wachsen, damit Sie in den Gral blicken mögen und der Anfang und das Ende Ihnen erschlossen werden.

©1970-2013 Henk und Mia Leene