IV - Die sieben Urtugenden

Die Sehnsucht und das Ziel des wirklich spirituellen Menschen ist es, Weisheit zu erlangen und selbst ein weiser Mensch zu werden. Die Umwandlung eines Ego-Menschen in einen Gottmenschen ist das Ziel aller Sucher nach dem Geist. 

Wie bekannt, wurde sie auf sehr unterschiedliche Weise versucht. 

Man hat das Ego in Ketten gelegt, kasteit, gehungert und andere Zwangsmaßnahmen angewandt, auch alle möglichen Experimente durchgeführt. Aber soweit bekannt geworden ist, hat kein einziges dieser Experimente Erfolg gehabt. 

Doch nach der inneren und äußeren Veränderung des Menschen wird immer weiter gesucht; denn niemand ist so beharrlich wie ein spiritueller Sucher, der von seiner inneren Unruhe getrieben wird. Meist besitzt der edle spirituelle Sucher unbewußt diese eingeborene göttliche Gabe, die die einzige ihm verbliebene Rettungsmöglichkeit für die Seele ist. 

Vor einigen Jahren haben wir auf die sieben Ursünden 4) hingewiesen in der Hoffnung, daß mancher daraus für seine Selbsterkenntnis Nutzen ziehen könnte. Nichts ist jedoch schwerer als Selbsterkenntnis, weil unvoreingenommene, aufrichtige Selbsterkenntnis aus dem Besitz einer Tugend geboren wird. Die Erlangung von Selbsterkenntnis kann man auf vielerlei Art betreiben: selbstvernichtend, selbstbeschirmend, wollüstig, träge, hochmütig, zornig oder eifersüchtig. 

Doch die Selbsterkenntnis im wahren Sinn des Wortes kann so nicht erreicht werden. Selbsterkenntnis ist das Herausfinden der guten, helfenden Gaben und die Isolierung und Bloßlegung der behindernden Eigenschaften des Menschen. Sie ist gewiß keine Form versteckter Egozentrik, indem man sich fortwährend mit sich selbst beschäftigt. Ein egoistisch spirituell interessierter Mensch neigt nur allzu schnell zu geistigem Egoismus. 

Er vergißt die Welt, die Mitmenschen und die Großartigkeit der Wahrheit, weil er nur auf sich selbst ausgerichtet bleibt. Auf diese Weise eine Selbsterforschung oder Meditation, Analysen oder Übungen zu betreiben, hat absolut keinen Sinn! 

Die Spiritualität wird dadurch in den Zwiespalt von Gut und Böse, in den Gegensatz von Licht und Dunkelheit hinabgezogen, was man ebenso durch Befolgung der Tugenden erreichen kann. Es gibt nämlich gute und schlechte Tugenden, die jedoch nichts mit den Urtugenden zu tun haben! 

Schlechte Eigenschaften haben ihr Gegengewicht in guten Eigenschaften, aber beide bewegen sich auf der Horizontalen und sind damit auf das Ego ausgerichtet. Die Ursünden liegen unter dem Niveau des normalen Schlechten; die Urtugenden stehen AUSSERHALB der natürlichen Schwingung, die die Egozentrik einstrahlt. Jeder Mensch, jedes Tier, jede Schöpfung wird mit der Saat der Ursünden in sich geboren - einzig und allein aus dem Grunde, weil vor unvorstellbaren Zeiten der Paraklet als Lebensspender und Beschirmer der Natur durch eine Massenegozentrik in einen unheiligen Atem (= Pneuma) verwandelt wurde. 

Dies geht zurück auf das Herabsteigen der Lichtsöhne 10), anders ausgedrückt: auf den "Sündenfall" der Seelen und damit den Beginn der Unordnung in dieser zeitlichen Welt 17).  

Die Umwandlung, die der geistig strebende Mensch so sehr begehrt, wurde bereits in archaischen Zeiten vollzogen, jedoch in umgekehrter Richtung: das Göttliche wurde ungöttlich, das Geistige wurde luziferisch. Gerade die spezifische Anwesenheit der Ungöttlichkeit in den Menschen ruft den bekannten Streit zwischen dem Satanischen und dem Geistigen hervor. 

Das normale Wechselspiel zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Negativ und Positiv ist absolut von diesem Kampf abhängig. Alles, was negativ, also empfänglich ist, steht offen für die Einwirkung der luziferischen oder satanischen Schwingungen, während alles, was positiv ausgerichtet ist, sich damit beschäftigt, das Satanische zu konkretisieren, in zeitliche Formen zu verwandeln. Das Menschenkind weiß es nicht anders, es trägt keine Schuld an der so verhängnisvollen Umwandlung des Heiligen = Ewigen in das Unheilige = Zeitgebundene. 

Die Seele ist nur ein Stäubchen, wenn auch darin alle Wahrnehmungen, alle Prinzipien der Heiligkeit anwesend sind. Gerade in dieser Seele wohnte die Macht, das Heilige zu vergewaltigen. Die Unheiligkeit der menschlichen Seele kann das Denken mit Bösartigkeit erfüllen; der Betreffende ist dann wahrlich vom Bösen beseelt! 

Wie viele gibt es, die von einer der Ursünden beseelt sind? 

Sie waren und sind die Führer der legendären unheiligen Lichtsöhne und erfüllen die gesamte Schöpfung mit ihrem zerstörerischen Streben, ihrer satanischen Beseelung. Sie sind niemals seelenlos - im Gegenteil: ihre Bösartigkeit beruht auf einem unterbewußten Wissen. Man sagt dann wohl: der Betreffende wurde mit dieser Gabe, dieser Einsicht, dem sechsten Sinn geboren! 

Solche Menschen werden niemals eine "Null" genannt, sondern sind aus sich selbst nach außen getreten und zeigen ihre Individualität in ihrem ganzen Satanismus. Die Sonne der Eins 18) oder des edlen Individuums ist dann zu einer irreführenden Imitation 19) geworden, zu Flittergold, das Unzählige verführt, zu Arroganz und Hochmut, die Autorität ausstrahlen und sehr viele Opfer verlangen. 

Diese zweifelhafte Gabe kommt aus der luziferischen Seele, aus Luzifer, dem geistigen Zwillingsbruder des Christus, dessen Erzfeind er ist, der vollkommen verschwinden muß, wenn der Andere, das Heilige oder der Weise seinen ursprünglichen Platz einnehmen soll. 

Würde man das Ego als diesen Erzfeind ansehen, dann würde das bedeuten, daß der Mensch in dieser Welt ohne Ego weiter existieren müßte oder könnte. Das aber ist unmöglich! 

Das Ego ist von dieser Natur, ist zeitlich, besitzt natürlichen Egoismus; aber es kann zu einem gefügigen Instrument der geistigen Natur gereinigt werden. Doch es bleibt bestehen - neben diesem Weisen. 

Daß dieses Ego nicht während des Lebens sterben kann oder soll, beweist auch das Wort: "Ein Mensch bleibt ein Mensch!", das für alle großen Botschafter gegolten hat und gilt. Das Ego muß werden, was es war, das heißt ein natürlicher Durchlaßkanal, ohne sich selbst zu erhöhen oder zu erniedrigen durch Auswüchse im Guten oder im Bösen. Das Endura der Katharer 20) beinhaltete nichts anderes als die Wiedererlangung der reinen Natürlichkeit, die ein Abbild der Urtugenden enthält, aber die Urtugenden nicht besitzt. 

Das Ego besitzt Tugenden und Untugenden; die Seele wird beseelt von Unheiligkeit oder Heiligkeit, Ursünden oder Urtugenden. Ein Mensch kann im Laufe seines Lebens in Unbarmherzigkeit, Bitterkeit, Lauheit verfallen, kann aber auch gute Tugenden erwerben, wie z.B. Humanismus, Freundlichkeit, Herzlichkeit, Mitempfinden usw., aber alle diese Tugenden und Untugenden sind zeitlich; der Mensch besitzt sie zeitlich, sie können sich täglich, ja stündlich ändern, schwächer oder stärker werden. Der Mensch kann sich ihrer mit seinem Ego oder mit seinem Willen bedienen. 

Ursünden sitzen in der Seele, im Blut, worin sich das Fluidum oder die Schwingung der Seele bewegt; sie befinden sich im Herzen, im Haupt, in den Begierden oder Sehnsüchten, im Willen - kurz: sie sind die Einwohner des Menschen, denen er nicht kündigen kann, bevor die Seele nicht bereit ist, sich der Heiligkeit wieder zuzuwenden. 

Fast alle Sucher beginnen ihre Suche nach dem Geist unter Einsatz ihres Ego, aus Unzufriedenheit, Enttäuschung, aus einer Tugend oder auch einer Untugend. Es gibt aber auch Menschen, die mit einem geistigen Verlangen geboren werden; ihre Kindheit ist bereits davon durchdrungen, ihre Jugend wird dadurch gekennzeichnet; aber als Erwachsene müssen sie dann vollkommen davon erfüllt sein, wenn sie im Alter die Weisheit besitzen wollen, die eine heilige Seele verrät. 

Die Spiritualität, die aus einer Tugend hervorkommt, ist zeitlich, verändert sich, verliert sich in schwierigen Verhältnissen meist; sie ist eine Erscheinung, die aufgerufen oder auch vernichtet werden kann. Wer eine unruhige Seele besitzt, kann erst Ruhe finden, wenn er Einsicht gewinnt, die Ursache seiner Unruhe erkennt und vor allem etwas dagegen unternimmt. 

Eine suchende Seele läßt das Ego erst dann in Ruhe, wenn es ihr die Herrschaft überläßt, ganz gleich ob mit einem unheiligen oder heiligen Resultat. 

Emotionalität, intellektueller Wissensdurst, alle Arten von Religiosität, bei denen das Ego einschläft und Befriedigung erfährt, sind keine erhebenden Aktivitäten, sondern Imitation 19), Flittergold und wuchern auf dem Boden einer der Ursünden: Trägheit, Geiz, Gier, Wollust, Hochmut, Eifersucht, Zorn oder Fanatismus. Darum haben viele Religionen ihre Geschichte mit dem Blut ihrer Opfer geschrieben; jede Ausdrucksform einer Ursünde verlangt Opfer. 

Alle Schein-Religionen, die sich also auf das Ego und dessen Ziele ausrichten, haben ihr Fundament in einer Ursünde. Die Anhänger einer solchen Religion sind deutliche Beispiele dieser Ursünden: Geiz und Gier, Habsucht, Hochmut und Wollust finden sich oft in ihren Glaubensbekenntnissen. Aber auch Trägheit und Eifersucht findet man oft. Vor allem die Trägheit zieht viele Egos an, weil sie nichts von ihnen fordert. Sie brauchen nicht zu denken, nicht zu zweifeln, nichts zu fragen, kurz: nicht zu erwachen durch die Unruhe ihrer Seelen oder jenes fünfte Element, den Äther, der die natürlichen Elemente im Ego: Feuer, Wasser, Luft und Erde, unruhig macht. 

Die Seele ist ätherisch, kann sich verflüchtigen, kann aber auch Gestalt annehmen, mächtig werden, kräftig eingreifen, um ihre Gegenwart zu erkennen zu geben. Ein krankes Ego und Disharmonie können die Seele schwächen; denn übermäßige Egozentrik läßt keinen Raum für das ätherische Element in ihm. 

Der Grund, weshalb wir die sieben Urtugenden besprechen und vor allem auch bekannt machen, liegt in der Tatsache, daß so mancher glaubt, er könne - spirituell gesehen - nichts vollbringen, oder in seinem spirituellen Fortschritt gebe es keine oder wenig Veränderung oder Fahrt. Das liegt daran, daß viele Menschen die Tugend der Untugend gegenüberstellen und sich dadurch in die natürliche Auf- und Abbewegung begeben, die niemals enden wird, solange die Welt besteht, die sich höchstens in einen harmonischen An- und Abstieg verwandeln kann. 

Dann wird die Konkurrenz aus der Zusammenarbeit der Gegensätze verschwinden, das heißt, die bösartige Seele jagt in der Natur nicht mehr eine der beiden Ansichten über ihre Grenzen hinaus. Nur die Seele als ätherisches Element ist in der Lage, das Ego zu mißbrauchen, zu verstümmeln, zu degenerieren, so wie sie selbst bei ihrem Abstieg degenerierte. 

Das einzige Element, das über die vier natürlichen Elemente oder das Ego herrschen kann, ist die Seele; die allererste Ursache des Satanischen ist die Unheiligkeit der Seele. 

Wer aber in der direkten Bedeutung des Wortes "seelenlos" lebt, ist keineswegs bösartig; er hat Tugenden und Untugenden, aber ihm fehlt die Beseelung für das Heilige wie auch für das Unheilige. Dazwischen gibt es nichts als das Ego, die Natur, das Laboratorium, in dem der Prozeß von der Heiligkeit zur Unheiligkeit und von der Unheiligkeit zur Heiligkeit stattfindet. Alles, was zeitlich ist, steht außerhalb dieses Prozesses, hat nur an zweiter Stelle daran teil. 

Der Mensch verliert sich in diese Zeitlichkeit, schlüsselt daran herum, will sie verbessern, versucht, sie zu heiligen, und am Ende steht er immer mit leeren Händen da: die Zeit hat nur eine Richtung und läßt sich nicht manipulieren. Dann ist er verbittert oder enttäuscht, weil die Umwandlung des Zeitlichen in das Heilige nicht gelingt! 

Doch er sollte einsehen, daß die Natur weder heilig noch unheilig ist, sondern sich zu unserer Hilfe ständig bewegt - eine Schöpfung, die Positives und Negatives oder besser Aktives und Passives enthält, das nur vom Menschen unbegriffenerweise als gut und böse bezeichnet wird, was aber in Wirklichkeit eine falsche Beurteilung ist. Das Böse und das Gute sind Gefährten; sie sind beide notwendig als die natürliche Zweiheit, aus der eine Frucht hervorgehen kann. 

Darum sagte Pythagoras, daß die Zwei keine Macht sei 12): sie ist das Bild der Natur, eine zeitliche Erscheinung, damit der Prozeß, der für den Ersten Menschen oder die Eins, den Lichtsohn, stattfinden muß, sich vollziehen kann. Die Natur hat keine beherrschende Macht in ihrer Zweipoligkeit, dem Arbeitsraum des Menschen; sie ist in diesen Grenzen wandelbar und wird das, was der Mensch aus ihr macht. 

Entsprechend verhält es sich mit unserem Ego, es ist da, und die Seele, das heißt das Überbleibsel des Lichtsohns, verwandelt dieses Ego nach ihrem Ebenbild, so wie Gott es seinerzeit mit der ersten Seele tat. Auch Luzifer war ein Ebenbild Gottes, und bevor der Mensch war, ist die Seele gewesen. Wer meint, daß das Ego seine Seele überwältigen könne, kennt die Kraft dieser Seele nicht, sondern unterschätzt sie und entheiligt sie durch seine Worte. Verständlicherweise entspringt eine solche Ansicht aus einer der Ursünden. 

Das Ziel der Erklärung der Ursünden kann immer nur darin bestehen, ihren Zusammenhang mit einer der Urtugenden zu erkennen; wahrscheinlich wird die eine Urtugend den einen Menschen mehr ansprechen als einen anderen, was dann bedeutet, daß seine Seele diese Urtugend am leichtesten wiederherstellen kann, und durch die Wiederherstellung einer Urtugend lassen sich auch die anderen leichter wecken. Wer also eine Urtugend ausstrahlt - aber beileibe keine angelernte Tugend! -, ruft die anderen Urtugenden zu sich. 

Das ist ein geistiges Gesetz. 

Die Urtugenden liegen in der Seele verborgen, und eine strebsame Seele ist bereit, sie wiederaufzurichten. Sie möchte das Heilige gern wiederfinden und wird sich zu einer bestimmten Urtugend hingezogen fühlen, weil die Erinnerung daran noch ein wenig in ihr lebendig ist; denn aus dieser Urerinnerung entsteht ja das individuelle Verlangen; Ihr spirituelles Verlangen kommt aus dem winzigen göttlichen Leben oder der winzigen Heiligkeit, die in der Seele noch verblieben ist. 

Die Urtugenden kommen also aus dem eigenen Inneren; man kann sie nicht erlernen, sondern muß sich ihrer bewußt werden, sie aufwecken! Das weise chinesische Wort: "Alles, was man Lernen muß, ist nicht wert, gelernt zu werden!" ist eine unumstößliche Wahrheit. Erlernen bedeutet imitieren, etwas festhalten, sich etwas zulegen, was dem Menschen ursprünglich nicht eigen war. 

Die Seele, also der wahre Mensch, braucht nichts zu lernen; alles ist in ihr von Ewigkeit; es braucht nur aufgebrochen, aufgeweckt zu werden - nicht durch eine Tugend oder eine Methode, noch dadurch, daß man sich einer Autorität unterwirft, sondern durch ernsthafte, ununterbrochene innere Arbeit. Was dabei herauskommt, ist dann keine abstrakte Theorie, sondern eine notwendige Therapie zur Heiligung oder Heilung der Seele. 

Kein geistig suchender Mensch wird sagen: "Was habe ich mit meiner Seele zu tun? Ich bin ich, und das allein interessiert mich"! 

Eben weil seine Seele unruhig ist, sucht er und hat Interesse an einem ganz individuellen Weg, der absolut von allen anderen Wegen oder Methoden abweicht. 

Aber er weiß auch, daß das Betreten eines solchen Weges eine Aufgabe nur für die Starken ist!

©1970-2013 Henk und Mia Leene