XI - Das schöpferische Vermögen und die Unveränderlichkeit

Die sieben Urtugenden sind - so seltsam dies auch klingen mag - in den Augen der meisten Menschen keine beliebten Gaben; man bleibt lieber bei der Tugend, die von zu kurzer Dauer ist, als daß sie Ärgernis verursachen könnte. Eine Urtugend weicht nicht bei Kritik und Neid der Beobachter, weshalb der Mensch mit einer Urtugend nicht von allen geliebt wird. 

Gab es einen einzigen Weisen auf Erden, der die ungeteilte Bewunderung und Liebe der Menschen besessen hätte? 

Wer ein schöpferisches Vermögen besitzt, ragt in gewisser Weise immer über die übrigen Begabungen seiner Mitmenschen hinaus, was allein bereits genügt, um ihn unbeliebt zu machen. Wir leben in der Zeit der Gleichheit: "Ordnung muß sein!" "Gleiche Rechte, gleiche Möglichkeiten, gleicher Besitz für alle!" 

Das ist soziales Streben - in Wirklichkeit ein vergebliches Bemühen! Ein Streben, das nicht aus purem Idealismus entsteht, sondern auch durch Eifersucht gebildet wird. 

Das ist deutlich durch die Tatsache zu beweisen, daß diejenigen, die so leidenschaftlich für gleiches Recht und gleichen Besitz eintreten, ihr Ideal vergessen, sobald ihre Chance gekommen ist, zu Reichtum und Macht zu gelangen. Dann ist die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen verschwunden; das bisherige Ideal hat keine Gültigkeit mehr. Nur was der Mensch nicht hat, aber gern besitzen möchte, hält sein Interesse wach. 

Diese Neigung kommt auch im spirituellen Streben der Menschen zum Ausdruck. Niemand kann sich des Geistes mit seinem Willen bemächtigen noch die Spiritualität zwingen, ihn zu bevorzugen, wodurch eine Art Unzufriedenheit entsteht, auf der alle Ursünden üppig wuchern. In der Gesellschaft ist das unbefriedigte Ego sowohl die Ursache für Revolutionen und Kriege als auch für den Sucherdrang allgemein. 

Wer in der Gesellschaft kein Glück hat, stürzt sich auf irgendeinen Zweig des geistigen Lebens. Jeder Mensch sucht Befriedigung, also Frieden mit sich selbst, in sich selbst, mit seinem Leben seinen Fähigkeiten. Zufriedenstellung des Ego ist aber auch Veranlassung zu Ursünden. Dabei führt Unzufriedenheit zu beweglichen Ursünden wie Eifersucht, Jähzorn, Gier, Wollust. Letztere gehört zu den Ursünden von Beweglichkeit wie auch Unbeweglichkeit, dagegen wird satte, überdrüssige Zufriedenheit zu Arroganz, Trägheit und Geiz. 

Der Weg des Menschen führt von der Unzufriedenheit zur Befriedigung. Das Suchen nach einer Position, das Hinaufstreben auf der gesellschaftlichen Leiter oder die Suche nach geistiger Erfüllung enden in der Stabilisierung der Position, der lebenslanger Bindung an eine Religionsform, der Zugehörigkeit zu einer Standesorganisation im Leben. 

Auch in der Spiritualität gibt es diesen Weg. Der Mensch mit dem höchsten Einweihungsgrad ist "angekommen". Das geistige Leben des größten Teiles der Menschheit ist ein getreues Abbild ihres materiellen Lebens. 

Sieht der Mensch keine Möglichkeit mehr, sein Ziel zu erreichen, dann ist die Verzweiflung groß - sowohl im spirituellen als auch im materielIen Leben. Jeder Mensch möchte schnell ein Ziel erreichen - den Zeitpunkt, da er mit einem Seufzer der Erleichterung seine Bemühungen, sein Streben, seine Arbeit einstellen kann. Das bedeutet gleichzeitig, daß alles, was er getan hat, eigentlich ein "Muß" war mit der Aussicht auf Befreiung davon. Es gibt nur wenige Menschen, die leben um des Lebens willen, arbeiten aus Freude an der Arbeit, ihren Nächsten helfen um des Nächsten willen. 

Die Zielmentalität wurde auch auf sein geistiges Leben übertragen. Wer viele Grade erreicht hat, braucht nicht mehr zu studieren noch an bestimmten Zeremonien teilzunehmen, sondern hat spirituell ausgelernt. Was wird damit eigentlich gesagt? 

Wenn man sich diejenigen ansieht, die glauben, ausgelernt zu haben, so stellt man fest, daß dieses "Angekommensein" keine Bedeutung hat; denn diese Menschen unterscheiden sich in keiner Beziehung von den "Arrivierten" der Gesellschaft. 

Sie besitzen dieselbe Überheblichkeit, denselben Dünkel, dieselbe Besserwisserei und dieselbe Herrschsucht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die man aber auch in der Gesellschaft findet. 

Das geistige Leben spielt sich neben dem materiellen Leben ab und hält damit gleichen Schritt. Der Mensch freut sich über einen geistigen Grad genauso wie über eine bessere Position. Aus diesem eingerosteten Gewohnheitsdenken herauszukommen, das aus den Krankheiten des Ego entstanden ist, kostet große Anstrengung; denn dazu muß sich der Gedankenfluß des Menschen ändern: er darf nicht mehr von dem Gedanken ausgehen, daß "Arriviertheit" - was immer er darunter auch verstehen mag - das höchste Ziel in seinem Leben ist. 

Auf Erden kommt niemand wirklich an. Jedes "Angekommensein" ist Schein und der Zeit unterworfen. Es besagt immer, daß man sich mehr dünkt als sein Nächster. Das gibt ein Gefühl der Macht; auch in der Spiritualität ist das so. Spirituelle Grade - ganz gleich wie sie entstanden sind - geben dem Menschen Selbstachtung und höheren Wert, auf den er keinesfalls verzichten kann. Er wird dadurch von seiner Minderwertigkeit, seiner Unvollkommenheit und von seinem Schuldkomplex befreit. 

Diese Vorstellung von der Spiritualität ist eigentlich unverständlich. Wahrscheinlich glaubt der Mensch, er könne später Gott seinen spirituellen Grad zeigen, um dann einen besseren Platz im Himmel zu bekommen. Was der Mensch in dieser Hinsicht auch tut, was er ersinnt, geht von seiner selbstverschuldeten Unwürdigkeit aus. Sogar Gott und der Himmel werden von diesem Menschen nach seiner eigenen Vorstellungswelt aufgeteilt, und daran glaubt er. 

Mit maßloser Arroganz und Überheblichkeit hat der gefallene Lichtsohn die ganze Schöpfung, Himmel, Hölle und Erde nach seinem eigenen Gutdünken aufgeteilt und einen Teil davon denen versprochen, die er auserwählt. Das einzige Ärgernis in diesem Plan bilden die Außenseiter, die bei diesem absurden Hochmut nicht mitarbeiten wollen und sich die Eigensinnigkeit erlauben, alles, was der Mensch ausdenkt, unglaubwürdig und vor allem unheilig zu finden! 

Jede Urtugend macht den Menschen zunächst zu einem Ungläubigen, was menschliche Denkkonstruktionen betrifft. Er entschlüpft dem gleichmachenden menschlichen Streben und damit der kanalisierten Lebensausrichtung auf gesellschaftliche und geistige Beförderung. Der Mensch müsse vorankommen, aufsteigen, das sei sein Verdienst; man dürfe sich nicht außerhalb der Gesellschaft stellen und sich nicht uninteressiert zeigen an gewaltigen Projekten, hohen spirituellen Einweihungen. 

Wenn man sich aber an diesen "großartigen" Zielen nicht beteiligt, scheint man keinen Platz in der mächtigen Organisation einzunehmen, die eine Gruppe intelligenter Lichtsöhne für ihre Mitmenschen bereitet hat - um sie an das Rad des Aufgehens, Blühens und Untergehens und das Land der Kraft mit dem Löwenkopf 42) zu ketten, wie es das Evangelium der Pistis Sophia bezeichnet. Je mehr Lichtsöhne sich an dieses Scheinlicht, diese Scheinexistenz verlieren und ihre ganze Energie der Erhaltung dieses Lichtes mit dem Löwenkopf schenken, desto intensiver wird es. Möglicherweise könnte es eines Tages dem Licht der Lichter 43) gleichen oder es sogar in den Schatten stellen. 

Das ist der heimliche Gedankengang eines hochmütigen, gefallenen und eifersüchtigen Lichtsohns. Unsere Gesellschaft liefert die Beweise für diesen Plan. Konkurrierende Eifersucht unter den Lichtsöhnen als Folge der anstachelnden Gewalt der einzelnen Ursünden, die sich um die Vormacht und die höchste Position bekämpfen, sichert den Fortbestand des Vernichtungsdranges. Kein vom Ehrgeiz getriebener Mensch akzeptiert, daß sein Nächster mehr ist als er selbst; notfalls akzeptiert er es vorübergehend und gezwungenermaßen, aber einmal wird er seine Gelegenheit ergreifen. So geschieht es im Kleinen wie im Großen. 

Und die Masse jubelt dem zu, der seine Chance wahrgenommen hat: heute diesem, morgen jenem; heute wird der eine zertreten und morgen der andere. Die Ursünden gedeihen in dem gegenseitigen Wetteifern; denn sie alle sind von Furcht besessen. 

Der Zorn fürchtet um seinen Eigennutz, seine Lebensexistenz. 

Der Hochmut fürchtet Unterordnung, Minderwertigkeit. 

Die Trägheit fürchtet sich selbst. 

Die Habgier fürchtet die Schwäche der Armut. 

Der Geiz fürchtet die innere Leere. 

Die Wollust fürchtet die Wahrheit über sich selbst. 

Und die Eifersucht fürchtet die Macht ihres Nächsten. 

Furcht ist der Daseinsgrund der Ursünden, während Furchtlosigkeit die Basis der Urtugenden ist. Da die ganze Natur, die Gesellschaft, unser Leben von Furcht beherrscht wird, ist es verständlich, daß eine Urtugend, die aus Furchtlosigkeit entsteht, Argwohn hervorruft und zum Anlaß wird, um die ganze Gruppe der Ursünden in der Person ihrer Besitzer gegen die urtugendsamen Menschen in Harnisch zu bringen. 

Das schöpferische Vermögen besitzt außerdem die Macht, aus dieser Furchtlosigkeit eine ganz neue Welt aufzubauen, die direkt neben der alten Welt besteht. Alle Urtugenden arbeiten an einer neuen Welt, bauen an einer neuen Lebenssphäre, einem reinen Schwingungsfeld. Wer eine Urtugend besitzt, verändert sein persönliches Fluidum, sein Schwingungsfeld, die Ätherwelt um sich. Seine Aura baut sich aus unvergänglichen, unirdischen Schwingungen auf, wodurch er zu einer "Gefahr" für die Egozentriker wird. 

Die von einer Urtugend ausgehenden Schwingungen können nämlich die egozentrischen Ausstrahlungen schwächer werden lassen. Wer effektiv spirituell etwas verwirklicht hat, kann seine Umgebung spirituell aufladen, auch unbewußt. Man erfährt bei einem solchen Menschen eine belebende Schwingung, die die eigenen Schwingungen in geistige Kraft verwandelt. Diese unwillkürliche Übertragung ist für den Empfänger jedoch nicht von Dauer. 

Es gibt willensschwache Menschen, die sich ständig in der Nähe von stärkeren Menschen aufhalten wollen, um deren Schwingungen aufzunehmen in dem Glauben, sich dadurch selbst heiligen zu können. Übertragene Schwingungen gehen jedoch durch die Aura hindurch, reinigen und verändern sie vorübergehend blitzartig, aber danach kommt die alte Vibration wieder zurück. 

Ein ähnlicher Vorgang geschieht bei jedem Gottesdienst in Kirchen, Tempeln und Einweihungsstätten: die ausgestrahlte Kraft - ganz gleich welcher Art - verflüchtigt sich oft noch an Ort und Stelle, ohne eine bleibende Wirkung getan zu haben. 

Mit der Kirlianfotografie 44) wird bewiesen, daß Mensch, Tier und Pflanze eine pulsierende, variable Ausstrahlung haben, anorganische Objekte dagegen eine konstante. Man spricht dabei vom bio-energetischen Körper. Auch hat man nachgewiesen, daß anorganische Gegenstände, im Schwerpunkt einer Pyramidenform niedergelegt, von den Schwingungen der Pyramide aufgeladen wurden; sie erhalten vorübergehend ein vibrierendes aurisches Feld. 45) 

Geistig starke, aber auch natürlich starke Persönlichkeiten übertragen ihre eigene Kraft auf ihre Nächsten. Dadurch kommen diese Nächsten unter ihren "Bann"; sie werden bei ständiger Wiederholung dieser Übertragung die Gefangenen der dominierenden Persönlichkeit, so wie die in einer Pyramide niedergelegten Gegenstände die Gefangenen der Pyramide sind. Menschen, die sich im Schwerpunkt einer Pyramide aufhalten, bekommen Halluzinationen wie beim Einatmen von LSD. 

Lange Zeit hindurch glaubte man, daß Menschen geistig begabt sein müßten, um in der Cheopspyramide besondere Erlebnisse mit Geistern zu haben. Sie können darüber nachlesen in dem faszinierenden Buch von Paul Brunton: Geheimnisvolles Ägypten. 46) 

In Ägypten waren die Geistererscheinungen bei religiösen Veranstaltungen besonders eindrucksvoll und mitreißend. Man glaubte, dadurch in ein geistiges Feld, zu einer geistigen Inspiration zu kommen. 

Die Wissenschaft weist heute nach, daß das Kraftlinienfeld des Menschen durch das Schwingungsfeld der Pyramide gestört wird, so daß fremdartige Vorstellungen und Denkbilder entstehen; eigentlich ist dies jedoch nichts anderes als eine Bewußtseinsverschiebung. 

Fast alle Hellseher, Hellfühlenden und Propheten sind einmal das Opfer eines ernsten Unfalls geworden oder leiden an der sogenannten "heiligen Krankheit", der Epilepsie, die deshalb so genannt wird, weil sie ihrem Besitzer Halluzinationen schenkt. 

Sie entstehen ebenfalls durch die Verformung des natürlichen Verhaltensschemas; manche glauben sich zwar von "Gott" gerufen, und die unwissende, wundergläubige Menge verehrt sie. 

Mit Spiritualität hat das jedoch nichts zu tun, wie sehr ein Sucher auch nach einer solchen fragwürdigen Gabe verlangen mag, weil er meint, dadurch aus seiner Namenlosigkeit erlöst zu werden. Der Unwissende staunt über die ihm unbekannten Dinge, die ihn faszinieren, aber in Wirklichkeit irreführen und betrügen. 

Darum ist die siebente Urtugend ein Schatz, der nicht von allen Suchern begehrt wird: die Unveränderlichkeit, die bedeutet: 

kein Ehrgeiz, keine "Streberei", kein fanatisches Jagen nach einem Ziel oder irgendeiner Verbesserung. Unveränderlichkeit ist nicht etwa Stillstand; täuschen Sie sich da nicht! 

Man nennt auch die universelle Wahrheit unveränderlich, weshalb sich mancher "Streber" ärgert, weil in geistigen Lehren oft endlose Wiederholungen vorkommen; denn der Geist bleibt immer derselbe. 

Es kann nichts gesagt werden, was nicht schon einmal irgendwo ausgesprochen wurde. 

Alle Weisen und Heiligen haben aus demselben Quell geschöpft, dessen Wasser immer wieder zusammenfließen. Es gibt keine Trennung im Geist, keine Grenzen oder Beschränkungen, keine eigenen kleinen "Geisterchen" und keine Möglichkeit zur Behauptung: "Das ist von mir!" 

Die Unveränderlichkeit ist wie die universelle Wahrheit. Wie viele Lügen auch über sie verbreitet werden, wie sehr sie auch versteckt wird, sie bleibt doch immer und ewig dieselbe, unveränderlich! 

Wer diese Urwahrheit entdeckt, bringt daraus vielleicht etwas zum Vorschein, was sein Mitbruder oder seine Mitseele einst auch aufgezeigt hat. Sie alle stoßen doch auf denselben unerschöpflichen Urbronn! 

Hinter den freigelegten Facetten strahlt immer nur ein Geist, der alles erleuchtet und die Facetten verbindet. Natürlich kennt der eifersüchtige, gefallene Lichtsohn diese Einheit und Unveränderlichkeit nicht mehr. Er ist durch die Macht der Ursünden und deren gegenseitigen Kampf innerlich gespalten; er wird aus seinem Ego motiviert, dem arroganten, abgetrennten Kern. 

Ist das Leben des größten Teiles der Menschheit nicht immer auf fein säuberliche Trennung ausgerichtet, ganz gleich ob auf spiritueller oder materieller Ebene? 

Ein solches von den Ursünden beeinflußtes "Streben" schafft ständig Situationen der Abgrenzung: auf einem ehrenvollen Posten, in einem spirituellen Einweihungsgrad, in seinem Geiz, in seiner Gier, in seiner Eifersucht oder in seinem Hochmut, ja sogar die Wollust macht ihn isoliert. 

Der Mensch, der auf den Urbronn der universellen Wahrheit stößt und erkennt, wie sich ihre Lebensströme über die ganze Welt erstrecken, wird in ein Gefühl der Verbundenheit aufgenommen: das Einswerden mit denen, die denselben Bronn entdeckt haben und sich daran erfreuen, darin aufgehen, dadurch aber auch Leid auf sich laden, andererseits aber auch geistig bereichert werden. 

Von einem solchen Augenblick an kennt derjenige, der diesen Schatz gefunden hat, keine Einsamkeit mehr, obwohl er ein Einzelgänger unter Vielen ist und bleibt. Er hat die unveränderliche Einheit entdeckt und begriffen, daß jede Trennung Schein und vor allem kleingläubig, menschlich ist. 

Deshalb hat auch er sich von der Masse getrennt, aber dafür eine unzerstörbare Einheit wiedergefunden, eine Gemeinschaft, die durch den Geist entsteht und nicht durch irgendwelche Gesetze zusammengehalten werden muß. 

Aus dieser Einheit, dieser unveränderlichen Wahrheit, empfängt er die innere Unveränderlichkeit, das heißt, er ändert niemals mehr sein Ziel oder seinen Lebensquell. Für ihn besteht für immer der Kern aller Dinge aus der unveränderlichen, universellen Wahrheit, die aus dem Geist ist!

©1970-2013 Henk und Mia Leene