Nachwort

Strömendes Wasser des Lebens kann sich unzählige Male regenerieren, sich allen möglichen Formen anpassen 60) und erschöpft sich nie. Immer wieder gibt es neue Überraschungen, ein atemberaubendes Spiel, das sich dem Zuschauer bietet. Feuer hat dieselben unberechenbaren, überraschenden Eigenschaften. Feuer und Wasser sind schnellebige Elemente von gewaltiger Kraft. Dieselbe ursprüngliche Kraft liegt in jeder Urtugend verborgen, doch sogar Ruhe überträgt diese Kraft. 

Wasser und Feuer sind die führenden Elemente in der Natur, die einander "umarmen" müssen, um den idealen Menschen zu erschaffen, wie es Hermes Trismegistos gelehrt hat. 61) 

Sie kennen sicher die Symbole für Wasser und Feuer: das Dreieck mit der Spitze nach unten und das Dreieck mit der Spitze nach oben. Ineinandergeschoben bilden sie das Hexagramm, den Sechsstern, das Symbol des Menschen, der nach der Genesis am sechsten Tag erschaffen wurde. 62) 

Zwei Gegensätze sowohl in der Natur als auch im Geist werden eins, um daraus den neuen Menschen hervorzubringen. 

Dies ist eine Realität, die jeder Mensch in sich herstellen kann, wenn er die beiden Gegensätze Denken (Feuer) und Fühlen (Wasser) in sich vereinigen will. Eine solche Einheit ist sehr schwer zu bewerkstelligen. Solange der Verstand als das feurige Element nicht demütig und aufnahmebereit ist, widersetzt er sich der Vereinigung mit dem Herzen. 

Doch mit dem Herzen ist es dasselbe. Es weigert sich, die Vernunft anzuerkennen, solange es keine bewußte Beseelung als Aspekt des Feuers besitzt. 

Im spirituell interessierten Menschen ist dieser Kampf zwischen Herz und Haupt daran zu erkennen, daß er seine Seele, das wässerige geistige Element, nicht mit dem Geist, dem feurigen geistigen Element, zusammenfügen kann. Nur eine Urtugend bringt beide zusammen: Herz und Haupt, Seele und Geist. Es gibt keinen Menschen, der dauernd die Harmonie zwischen Herz und Haupt aufrechterhalten kann. 

Der Streit zwischen Gefühl und Verstand wird aufgehoben, wenn das Denken und die Emotionen gleichzeitig in etwas aufgehen, wie beispielsweise in einem spirituellen Ziel, dem beide sich ganz hingeben. Die Verschmelzung von Seele und Geist bringt Weisheit hervor, wobei verständlicherweise vorher die Harmonie zwischen Herz und Haupt wiederhergestellt sein muß. 

Die Schwierigkeit dabei besteht darin, daß mit der Verwirklichung einer Urtugend nicht das Ego anfangen kann, was bedeutet, daß der rechte Beginn oder der "gute Anfang" 63) nicht dem Willen oder dem Zwang des Ego unterliegt. Doch das Ego ist der einzige faßbare Mitarbeiter, den der irdische Mensch kennt. Was außerhalb des Ego liegt, ist für den irdischen Menschen und seine Vermögen nicht erreichbar. Das ist das beständige Ärgernis für den suchenden Menschen; darin liegt immer wieder seine Enttäuschung, sein vergeblicher Kampf begründet. 

Die Erweckung einer Urtugend nämlich beruht auf der inneren Anziehungskraft der Seele. Wer nicht genügend Interesse für die Spiritualität hat, dessen Seele besitzt absolut keine Affinität mit irgendeiner Urtugend, so daß sein Bemühen nicht mehr als ein Spiel ist - ein Zeitvertreib, der immer wieder anziehenderen Interessen weichen muß, die das Ego fesseln. Da das Ego dann stärker zu sein scheint als die Seele, bleibt die Verwirklichung einer Urtugend lediglich eine zweitrangige Angelegenheit, weshalb auf wirklich spirituellem Gebiet dann nichts geschieht! 

Die Kernfrage lautet immer: Welches Interesse hat im entscheidenden Augenblick den Vorrang: das spirituelle oder das materielle? 

Jede Urtugend ist konzentriert mit der Seele verbunden. 

Aus allen Urtugenden spricht geistige Lebenskraft, die der Motor ihrer Existenz ist. Die Intensität, mit der die bewußtgewordene Seele sich sehnt oder sucht oder das Heil begehrt, ist bestimmend für die Spiritualität eines Menschen. 

Einst meinte jemand als Begründung dafür, daß er den spirituellen Pfad verließ: "Ich habe nicht genügend Verlangen!"  Das war eine ehrliche, aufrichtige Entschuldigung. Denn aus seinem weiteren Leben ergab sich dann, daß dies in der Tat zutraf, da er sich hingebungsvoll für alle möglichen materiellen Interessen einsetzte, aber aller Spiritualität aus dem Wege ging. 

Dann ist das Fünkchen beginnender Spiritualität wieder erloschen; dennoch war es kurz aufgeflammt, was bedeutet, daß der betreffende Mensch ein Lichtsohn ist, der jedoch einer der Ursünden zum Opfer fiel. 

Die Ursünden versuchen, jede auf ihre eigene Weise, das geistige Licht des Lichtsohns umzuwandeln in das Licht der Kraft mit dem Löwenkopf 42) - in ein absolut egozentrisches Licht also. 

Die einzigen Mächte, die dazu die Möglichkeit haben, sind die Ursünden. Bemühen Sie sich darum, Ihre Ursünde zu durchschauen, und reißen Sie sie mit Stumpf und Stiel aus! 

Sie ist Ihr ganz persönlicher Widersacher, Ihr Satan, Ihr Verführer! 

Wer kein wirklich spirituelles Interesse hat, läßt einen solchen Rat an sich abgleiten; er versteht ihn gar nicht, während spirituelle Menschen ihn sich zu Herzen nehmen. Da eine Ursünde das Produkt der allerersten Umwandlung der Heiligkeit in Unheiligkeit gewesen ist, also die Folge der Unterwerfung unter die Gesetze der luziferischen Herrschaft von Gut und Böse im Kosmos und im Menschen, liegt in ihr der Kern der Anti-Spiritualität. Die Ursünde kann nicht durch das Ego bekämpft oder überwunden werden; denn die Ursünde hat die Seele für sich in Anspruch genommen, das einzige noch übriggebliebene unirdische Element. 

Eine verlangende Seele ist immer auch eine zweifelnde oder unruhige Seele, die sich mit dem luziferischen Licht nicht begnügen will. Sie gleicht der Sophia 42), die im Chaos um Hilfe ruft. Sie muß die zwölf Äonen der Ursünden als die Repräsentanten des Chaos überwinden. Doch schon mit einer einzigen Urtugend gelingt ihr das immer. 

Die Sophia besaß von Anfang an eine Affinität mit einer starken Urtugend: dem Heilbegehren. Alle ihre Bußgesänge sind davon durchzogen. Dieses Heilbegehren wurde immer stärker auf ihrem Weg durch die Äonen und half ihr schließlich, ihr Ziel zu erreichen. Eine solche verbliebene heiligende Hilfe muß in jedem spirituell suchenden Menschen anwesend sein; sonst gelingt die Rückkehr ins Vaterhaus nicht. (Luk. 15). 

Durch jede menschliche Problematik, durch den ganzen Lebenskampf, durch alle Freuden und Leiden muß ein goldener Faden laufen, den der Mensch nicht loslassen oder verlieren darf. Dieser goldene Faden kann wie der gute Mut sein, der aus der Gewißheit kommt, daß das Licht der Lichter 42) gegenwärtig ist und ihn rettet. Oder es ist die Liebe zum Geist oder der Pistis, dem Gefährten, der im Dreizehnten Äon 42) zurückblieb. Oder es ist das intensive Heilbegehren, aus dem heraus er ständig um Hilfe ruft. Es kann auch der innere Adel sein, der ihn einfach alle Ursünden oder Äonenmächte negieren läßt. Oder es ist das Urwissen, das ihm sagt, wie er jedem Angriff der Äonen ausweichen kann. Oder es ist das schöpferische Vermögen, das aus ihm selbst in jedem Äon eine neue Kraft aufruft, die die Überwindung bringt. Oder es ist die Unveränderlichkeit, die den Äonenmächten mit Unglauben und Verachtung begegnet, so daß sie dadurch entkräftet werden. 

Unüberwindlichkeit ist immer die Eigenschaft derer, die Geisteskraft besitzen. Diese Unüberwindlichkeit besitzt der nur schwach mit seiner Seele verbundene Mensch nicht. Er geht immer wieder im Wirbel der materiellen Lebensinteressen unter oder läßt sich zur äußerlichen Spiritualität verleiten, die sein Schuldgefühl dann kompensiert. 

Die Ohnmacht von Mensch zu Mensch, sich weiterzubringen, entsteht durch den Abstand, der zwei Menschen, zwei Egos, immer voneinander trennt. Mancher glaubt, daß er mit einem anderen Menschen eng verbunden sein könne, aber im tiefsten Wesen bleibt jeder allein, auch in der materiellen Liebe. Man kann seinem Nächsten nur bis zu einer gewissen Höhe helfen, zur Einsicht zu kommen: die entscheidende Tat muß von jedem selbst ausgeführt werden - oder die Einsicht blieb ohne Kraft. 

Ein spiritueller Mensch kann einem spirituellen Sucher so klar wie nur möglich aufzeigen, wo der Engpaß seines Versagens oder seines spirituellen Stillstandes liegt, so daß er das Hindernis spontan erkennt und unmittelbar beschließt, etwas dagegen zu tun - aber im entscheidenden Augenblick der Tat steht er allein. Dann ist er der Macht seiner individuellen Ursünden ausgeliefert, die ihm suggerieren: 

Ach, laß es ruhen bis morgen! 

Oder: Es gibt so viele interessantere Dinge! 

Oder: Warum soll ich mich so anstrengen? 

Oder: Sollte das alles wirklich wahr sein? 

Oder: Bin ich wirklich solch ein egozentrischer Mensch? 

Sobald sich der Mensch vornimmt: "Jetzt werde ich mich auf die Spiritualität ausrichten!", liegt seine Ursünde auf der Lauer und packt ihn an seiner schwachen Stelle, also bei der Affinität, die er mit seiner Ursünde hat. Bei diesem Kampf gegen seine spezifische Ursünde kann ihm niemand helfen. Einmal ist diese Ursünde für viele Menschen eine peinliche Angelegenheit, weil sie sich eigentlich wegen ihrer Schwäche schämen; zum anderen ist die Liebe zwischen dieser Ursünde und dem gefallenen Lichtsohn sehr bindend! 

Es ist eine Haß-Liebe-Bindung. Heute haßt der Mensch seine Ursünde, morgen läßt er sich von ihr zügeln, weil er das Ziel dieser Ursünde begehrt oder liebt. Sein ganzer Organismus ist von dieser spezifischen Ursünde durchzogen; er wird von ihr beherrscht, ist ihr Besitz. Seine Krankheiten können darauf zurückgeführt werden, seine Schwächen und Anfälligkeiten hängen damit zusammen. Die Ursünde ist - wie man so schön sagt seine - Achillesferse. Würde diese Ursünde durch eine einzige Urtugend geschwächt, zur Seite gedrängt, dann hätte er den Kampf gewonnen. 

Spiritualität ist keine Frage des Lernens, nicht abhängig von Einweihungen, Unterwerfung, Gehorsam oder Pflichterfüllung. Spiritualität hängt von der übriggebliebenen Heiligkeit der Seele, von ihrer Lebenskraft ab. Es gibt Menschen, die die Spiritualität als ein Hobby betreiben und sich dabei natürlich nicht ändern; sie vertreiben sich damit nur ihre Zeit oder vergnügen sich bei interessanten Themen. Gerade bei Esoterikern kommt das häufig vor, die dann spirituelle Hobbyisten sind - von den guten Esoterikern selbstverständlich abgesehen! 

Wenn man neben seinen täglichen Lebensgewohnheiten der Spiritualität nur ein kleines Plätzchen einräumen kann, ist man ebenfalls esoterischer Hobbyist - ein Mensch, der sich mit einem von der Gesellschaft gemiedenen Thema beschäftigt. 

Wenn der Mensch einsam wird, zeigt sich erst, wer und was er ist. Viele Menschen suchen einen geistigen Führer, der ihr Seelenflämmchen an seiner eigenen geistigen Flamme brennend hält. Sie suchen eine Autorität, die sie auf dem bequemsten Weg den Berg hinaufführt, oder einen Führer, der gute Nahrung für sie aussucht. 

Doch ist das nicht eine Herden-Mentalität? Der Widder tut das auch für seine Schafherde. Hatte die Sophia bei ihrem intensiven Ringen mit der Macht des Authades 42) eine Autorität, an der sie sich festklammern konnte? 

Nein! Sie hatte nur das Licht der Lichter und ihre kleine innere Kraft, die ihr geblieben war. Ein gnostischer Mensch ist immer ein eigenständiger Mensch: in seinen Schwierigkeiten wie in seinen Erfolgen. Gerade durch diese Selbständigkeit beweist er, daß er der Herde entwachsen ist. 

Vor diesem Zeitpunkt war er weder ein Gnostiker noch eine Pistis Sophia, weder ein Ketzer noch ein wahrer Esoteriker. 

Spirituelle Hobbyisten gründen auch Clubs, um gemeinsam ihr Hobby auszuüben und zu verfeinern, während Spiritualisten Einzelgänger bleiben, bis sie einen Bruder an einer Urtugend erkennen. 

Ein Spiritualist ist genauso einsam wie ein Egoist: beide operieren von ihrem eigenen Mittelpunkt aus. Der Unterschied besteht darin, daß ersterer innerlich wächst, wohingegen letzterer innerlich versteinert. 

Der Spiritualist entwächst sich selbst und wird bald ein Teil der großen Einheit; der Egoist aber wird höchstens Parteigänger im weitesten Sinne des Wortes und bleibt damit Teil der Geteiltheit. Ein Egoist läßt niemanden nahe an sich herankommen; der Spiritualist zieht die Menschen an, auch ohne daß er es will. 

Ein spiritueller Mensch bemüht sich auf jede Weise um innere Bereicherung, nämlich Schätze im Himmel (Matth. 6,20), vermeidet aber, was ihn seelisch verarmt. Es ist nebensächlich und untergeordnet, welche Pflichten er in dieser Welt übernimmt, aber entscheidend, welche Liebe er kennt. Liebe ist immer stärker als Pflichterfüllung. Alles, was organisiert ist, baut sich auf Pflichten auf; der Geist aber ist nur über eine Form der Liebe zu erreichen: das Herz verschenkt sich nur mit Liebe. 

Wenn man mit Freunden über die vielseitige geistige Liebe sprechen kann, ist es gewiß, daß der Geist anwesend ist, der alle Beteiligten heiligt. Wo Menschen über den Chrestos 64), den universellen geistigen Erwecker, sprechen, ist dieser in ihrer Mitte. (Matth. 18,20) 

"Wer allein ist, bei dem bin ich; doch wo zwei sind, werde ich bei ihnen sein." 65) 

Die gute Eins, 30) der wahre Lichtsohn, besitzt diesen Chrestos. 

Sobald zwei Lichtsöhne beisammen sind, bilden sie eine Art Gral, eine geistige Atmosphäre, in der Chrestos wohnt. Wo aber drei von ihnen sind, können sie diesen Chrestos als Resultat beweisen. 30) Schließlich kann man ohne diese geistige Kraftausgießung nicht mehr leben. 

So geschieht es dann, daß die Ursünde immer weniger wird, weil man aus innerer Erfahrung die Urtugend lieber hat als die Ursünde. Dann ist es vollbracht. Die Welt der Zweipoligkeit oder des Kreuzes ist überwunden. 

Der Lichtsohn hat sich für immer mit dem Licht der Lichter verbunden, so daß ihn der Weg empor entlang dem herabgesandten Strahl der Ur- oder Geistsonne keine Mühe mehr kostet. 

Es liegt in deiner Hand, Lichtsohn, die guten Werke zu tun; warum solltest du sie noch länger unterlassen? 

Dann wirst du feststellen, daß es gleichsam ist, als würdest du mit dem Feuer des Geistes getauft (Apg. 1,5 und 11,16) und könntest die Stimme vernehmen, die spricht: "So ist es gut, mein Sohn, wahrlich gut: ich habe dich als meinen geliebten Sohn auserwählt." (Matth. 3,17) 

Dann weiß der Lichtsohn mit seinem ganzen Herzen, daß er den guten Anfang gefunden hat. Dann ist das gute Ende wie eine Aurora, die er wirklich sieht und deren Strahlen er schon auf seinem Antlitz spürt. (2. Petr. 1,17-19) 

Dann ist alles wieder gut. 

Mögen auch Sie in dieser Hoffnung bald heimkehren zu Ihrem himmlischen Vater, indem Sie aus dieser Hoffnung den guten Mut schöpfen. 

Dazu begleite Sie der Tiefe Friede von Bethlehem bis an das Gute Ende, 66) von der Wiedergeburt der Seele bis zur allumfassenden Auferstehung im Geist!

©1970-2013 Henk und Mia Leene