VII - Das Heilbegehren - Merkur

Ein spirituell interessierter Mensch gibt sich meist nicht mit allgemein geltenden Erklärungen und Auffassungen zufrieden, sondern sprengt den gewohnten Rahmen des Lebens, was allein schon Grund genug ist, von seinen Mitmenschen als "Sonderling" qualifiziert zu werden. 

Er ist immer von einem undefinierbaren Etwas beseelt, das aus dem Äther-Element 25) stammt, das dem täglichen Leben eine besondere Dimension hinzufügt. Er macht sich dadurch sein Leben nicht etwa leicht, was jeder spirituell lebende Mensch bestätigen kann. 

Aufgrund seiner Einsicht und seiner Lebenserfahrungen vertieft und bereichert er sein Leben als eine Nebenerscheinung bei der Verwirklichung einer der Urtugenden. Ganz gleich welche Urtugend man nimmt, sie alle machen aus dem Menschen einen überzeugten "Fremdling" auf Erden. (1. Petr. 1,1 und 2,11) 

Der geistig mutige Mensch ruft die Eifersucht und Gegnerschaft seiner Mitmenschen auf, während der von geistiger Liebe beseelte Mensch in erster Linie auf Unverständnis stößt: man kann sich in seine Liebesgefühle nicht hineindenken. 

Darum isoliert sich ein spirituell lebender Mensch immer trotz seiner Bemühung um Verständigung mit seinen Mitmenschen. 

Doch deren Wege laufen horizontal, während sein Weg vertikal ausgerichtet ist. Wenn jemand sich als spirituell suchender Mensch bezeichnet, aber noch ganz von nebensächlichen Dingen und nutzlosem Tun in Anspruch genommen wird, ist bestimmt in ihm kein "Heilbegehren" - die dritte Urtugend - anwesend. Das Heil zu "begehren", ist eigentlich keine richtig passende Bezeichnung; denn dieses Wort besagt, daß der Mensch vollkommen von einer Begierde beherrscht wird, einem alles beherrschenden Verlangen nach "Heil", Heilung, Regeneration der Seele. 

Heilbegehren ist dem innerlich uneinigen, gespaltenen Menschen vollkommen unbekannt. So wie alle Urtugenden wächst auch das Heilbegehren aus einer Sicherheit, die den Menschen überzeugt sein läßt, daß es ein Heil, eine Rettung und eine Wiederherstellung des ursprünglichen Menschen gibt. 

Begierde hat im täglichen Leben eine üble Bedeutung, die besagt, daß man leidenschaftlich etwas besitzen möchte. Alle Ursünden bedienen sich der Begierde des Ego, aber die Eifersucht schürt sie wie keine andere: das Begehren, zu sein wie sein Nächster - das Begehren, zu haben, was sein Nächster hat. 

Begierde macht ruhelos, weshalb auch das Heilbegehren die Urtugend ist, die zur Bewegung antreibt. Dabei geht der von Heilbegehren getriebene Mensch von Erfolg zu Erfolg; seine Seele bewegt sich von Wachstum zu Wachstum. Heilbegehren richtet sich aber nicht auf materielle Dinge, sondern tastet alle geistigen Höhen und Tiefen ab, weshalb dieser von Heilbegehren gedrängte Mensch wohl innere Sicherheit besitzt, weil er weiß, was er sucht, aber keine innere Ruhe findet, weil er noch immer nicht gefunden hat, was er sucht. 

Heilbegehren ist auch ein Aspekt der Liebe. Die Seele, die den Geist umfangen will, wird von Liebe gedrängt, verbunden mit dem Heilbegehren - dem Willen, den Geist zu besitzen. Das Heilbegehren sorgt dafür, daß der heilige oder spirituelle Mensch nicht in dem eigenen Verlangen oder der eigenen Befriedigung erstarrt oder das Wunder des Geistes von ferne anbetet. Im Geist gibt es keinen Stillstand; Geist ist Bewegung, aber gebündelt, wodurch die innere Ruhe und Sicherheit entsteht. Dafür sorgt das Heilbegehren. 

Der geistige Mensch hört nicht auf, danach zu streben, wie Gott zu werden, seinem Vater zu gleichen. 

Heilbegehren bewahrt den Menschen vor Irrtum, vor einem Rückfall ins Chaos, vor Lügen. Es unterscheidet die Wahrheit vom Schein. Man könnte es auch als ein "Verlangen" der Seele bezeichnen. Nur ist es stärker als alles, was man normalerweise unter Verlangen versteht. Ein materielles Verlangen kann man mit der Zeit vergessen oder aufgeben; Heilbegehren kann man nicht vergessen, weil man innerlich dadurch aufgebrochen wird.  Für alle, die den geistigen Grund unter ihren Füßen verloren haben, ist das Heilbegehren eine verhängnisvolle Gabe, weil sie den Menschen aushöhlt; denn sie verlangt geistige Energie. 

Auch diese Urtugend ist schwer zu erlangen, weil sie vom Menschen alles verlangt, seinen ganzen Einsatz, sein Interesse, sein Leben. Geistige Menschen, die zu ihren Anhängern oder ihren Freunden ständig von der Erlösung der Seele sprechen, können von Heilbegehren getrieben sein; die Vorstellung, daß die Seele regeneriert werden müsse, verläßt sie nie! 

Sie wollen dann diese Idee anderen Menschen einreden, ihnen die logische und heilige Wahrheit dieses Gedankens klarmachen. Sie reißen ihre Mitmenschen in ihre Begeisterung und Überzeugung hinein, weil sie innerlich an ihrem eigenen Heilbegehren verbrennen. 

Man muß eine mächtige innere Kraft besitzen, um diese Urtugend austragen zu können; in einer schwachen Seele wirkt sie zerstörerisch. Sie duldet kein anderes Verlangen neben sich; es geht ihr um ALLES oder NICHTS. 26) 

In der Geschichte der Menschheit war dieses Heilbegehren bei einigen großen Weisheitslehrern deutlich zu erkennen. Sie lebten in der Welt, aber nicht von der Welt. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ein einziges Ziel, und sie sprachen auch nur von diesem einen Ziel. 

Ganz besonders werden asketische Menschen vom Heilbegehren angezogen. Die Imitation dieses Heilbegehrens aber ist bei solchen Menschen zu erkennen, die von einer bestimmten Begierde getrieben werden: sie sprechen von nichts anderem als von diesem Wunschbild und seiner Erfüllung. Im tiefsten Wesen ist in uns allen etwas von diesem "Begehren nach Heil". 

Unser Verlangen, ein spiritueller Mensch zu werden, geistig etwas zu verrichten oder zu verbreiten, sind schwache Abbilder dieses Heilbegehrens. 

Jeder spürt auch, wie sehr der spirituell ansprechbare Mensch, auch wenn er nur von einem schwachen HeiIbegehren gedrängt wird, bereit ist, Opfer zu bringen, wenn er nur seinem "Heil" näherkommt. Dieses "Begehren" nach Heil hilft ihm hinweg über Opfer, Schwierigkeiten und Hindernisse. Wozu sein Nächster niemals in der Lage wäre, das fällt ihm leicht, weil in ihm ein Feuer entzündet ist! 

Im Ego findet man diese Begierde als Leidenschaft, die versucht, das zu bekommen, was es haben will; dafür gehen viele Egos auch über Leichen. Ihre "eifrige Sucht" (= Eifersucht) nach Erreichung ihrer Ziele macht sie zu allem fähig. 

Eifersüchtige Menschen können von verschiedenen Begierdenformen beseelt sein: entweder von der Begierde, selbst verändert zu werden oder etwas oder jemanden zu verändern, oder von der Begierde, etwas zu erlangen. Begierde als Egotriebkraft ist unbezähmbar. 

Doch ist die Begierde eine untergründige Triebfeder für die Ursünden. Man begehrt etwas um einer anderen Sache willen. 

Eifersucht, Hochmut, Geiz und Wollust sind Formen der Begierde. Auch Habsucht wird als eine Begierde angesehen. Heilbegehren kennt jedoch nur ein Ziel: zu werden, der man war, bevor die Welt bestand. 

Das Heilbegehren macht den Menschen zu einem Wahrheitssucher, der die Gerechtigkeit vertritt. Darum scheint das Heilbegehren einen Menschen zu verhärten, was jedoch nur scheinbar der Fall ist: er wird lediglich kompromißlos. 

Kompromißlosigkeit ist in den Augen des unwissenden und innerlich gespaltenen Menschen immer eine Form von Härte oder Mitleidlosigkeit. 

Das Mit-der-Zeit-gehen, die Tendenzen der Zeit mitmachen, 

kann die Spiritualität entkräften und in Geistlosigkeit verwandeln. 

Man schließt Kompromisse mit der Zeit, um geistige Methoden zu verkaufen. Beim Handel mit Seelen übertrumpfen sich die Händler durch immer bessere und erfolgreichere Verkaufsmethoden. Das aber hat mit wahrer Spiritualität nichts zu tun. Der Geist bleibt von der Zeit unberührt, und eine Seele bleibt eine Seele. Man kann nicht sagen: Heute suchen wir einen anderen Geist als gestern! 

Der Geist kümmert sich um keinerlei Form; er ist frei und bleibt frei, und es läßt ihn unberührt, hinter welcher Verkleidung oder in welcher Verpackung die Händler ihn verkaufen wollen; denn daraus hat er sich längst zurückgezogen. 

Er zieht sich zurück oder teilt sich mit nach eigenen Ordnungsprinzipien. Es würde traurig um die Welt bestellt sein, wenn der Mensch dem Geist das Gesetz oder die Methoden zur Erlösung der Seelen vorschreiben könnte. 

Der Mensch glaubt wohl, daß er dies könne, weil er nicht einmal merkt, daß seine Ware geistlos geworden ist. Ein Mensch ohne ein Fünkchen Intuition oder Spiritualität kann den Geist nicht erkennen, geschweige denn mit ihm handeln! Unsere Gesellschaft ist ein Marktplatz für Händler geworden, und Händler gehen manchmal zweifelhafte Wege, um ihre Ware an den Mann zu bringen! 

Ursprünglich stand niemand zwischen dem Geist und dem Menschen, höchstens ehrwürdige Priester. Im Laufe der Zeit sind die Zwischenhändler gekommen - Vermittler um des Vermittelns willen, aus Eigeninteresse, um gegen Provision etwas zu verkaufen. Und dieser Verkauf von Spiritualität verlangt allerlei Verpackungen und Methoden, um den Handel zum Blühen zu bringen. 

Der moderne Mensch kauft etwas Neues, wenn ihm die Verpackung gefällt; er ist der Käufer, und die Geschmäcker der Käufer sind verschieden. Nur der Geist ist unveränderlich und hält sich aus jedem Handel heraus. Die Händler, die Geist anbieten, spekulieren auf die Ego-Begierde des Menschen, die so reich nuanciert ist, daß daraus unzählige Religionen oder Konfessionen und vielerlei Formen geistiger Interessen werden konnten. 

Der von Heilbegehren beseelte Mensch läßt sich jedoch nicht täuschen; er bleibt allen diesen Händlern gegenüber steinhart. 

Er geht davon aus, daß nur sein Heilbegehren den Geist ruft, der für ihn Essen und Trinken, Leben, Denken und Fühlen ist. 

Und er hat recht! Heilbegehren hält den Menschen absolut aufrecht auf einsamer Höhe, in den Strömungen des Lebens, in den feindlichen Lagern. 

Begierde nimmt keine Rücksicht auf das Ego, sondern treibt es in die Arme der Händler. Heilbegehren hält den Menschen fern von diesen Fangarmen, zwingt ihn dafür aber in die Isolierung; eine solche Einsamkeit erfordert ununterbrochen innere Kraft. 

Einsamkeit ist etwas ganz anderes als Alleinsein. Einsamkeit kann ertragen werden, wenn der Mensch ausgefüllt ist von dem, was er in sich besitzt: seine Gedanken, seine Gefühle. 

Dieses innere Leben muß ihm also geistige Nahrung zuführen; sonst würde er zu einem innerlich Toten erstarren, der sich selbst immer wieder zitiert. Um geistig gesund zu bleiben, muß der Mensch abwechselnd abgeben und aufnehmen können. 

Auch der Einsame muß dies tun; er ist sogar gezwungen abzugeben, um innerlich empfänglich zu bleiben. 

Darum pflegt er den Kontakt zu seinen Mitmenschen, aber sie verstehen ihn nur selten: er ist keiner von ihnen. Sie respektieren oder verehren, verachten oder hassen ihn, aber sie ergründen ihn nicht. Zwischen ihnen liegt der geistige Abgrund. Das ist Einsamkeit: Umgeben zu sein von den Vielen, aber engen Kontakt nur mit ganz wenigen Menschen zu haben, so daß die Einsamkeit bleibt. 

Auch das Ego kennt eine Form von Einsamkeit, die aber die Folge der Tugenden und Untugenden des Ego ist. Man kann Abstand schaffen, sich selbst verschließen, aber das hat nichts mit geistiger Einsamkeit zu tun. Alle Urtugenden finden ihr verzerrtes Abbild auf Erden: im Ego wird Heilbegehren zu Begierde und Eifersucht, Liebe wird zu Wollust, Leidenschaft oder körperlicher Ekstase, während der gute Mut zu Jähzorn, Aggression, Übermut oder auch Hochmut wird. Weil der Mensch seit unvorstellbar langer Zeit mit der Tugend und der Untugend gelebt hat, erinnert er sich der vollkommenen Urtugend nicht mehr. Wer nach der strengen, prinzipiellen Askese, nach Absonderung, nach ausschließlich geistiger Besinnung verlangt, wird vom Heilbegehren angezogen. Voraussetzung ist jedoch immer eine innere Hingabe, die, wie jeder weiß, schwer zu verwirklichen ist. 

Hingabe fordert das ganze Selbst; sie ist weder Versklavung noch Unterwerfung, sondern die Hingabe an das Heilbegehren bedeutet, sich vorbehaltlos an den Geist zu verschenken, damit dieser den Menschen zu dem Individuum regenerieren kann, welches das Heil besitzt. 

Alle Verkünder des Geistes, die von Heilbegehren getrieben wurden, waren Einzelgänger, unantastbare Persönlichkeiten, unverletzlich, kompromißlos, also selbständige Menschen, die nur dem Geist folgten. Solche Menschen sind auf Erden, um voranzugehen, weil ihr Heilbegehren den Glauben ihrer Mitmenschen zu einem strahlenden Licht erleuchtet. 

Heilbegehren ist noch stärker als der Glaube; es ist tief spirituell und mitreißend, aber vor allem von einer selbständigen geistigen Vernunft beseelt. Mit allen Urtugenden ist es wie mit der Gabe des Glaubens: der eine Mensch kann sie dem anderen nicht übertragen, so wie man auch den Geist in Wirklichkeit nicht übertragen, sondern nur austragen kann. Der eine Mensch sieht diesen Geist, spürt ihn, erkennt ihn, während sein Nachbar davon möglicherweise ganz unberührt bleibt. 

Nur im Geistfeld zieht Gleiches nur immer Gleiches an, weil es dort keine Polarität gibt. Jede Urtugend als ein Aspekt des Geistes wendet sich dem Geist zu und nimmt auf diese Weise ihren Besitzer mit. Auf einem einzigen Sonnenstrahl kann man zur Sonne aufsteigen. Wenn Sie zu denjenigen gehören, die bisweilen seufzen: "Der Weg zum Geist ist so lang und mühsam", bedenken Sie dann doch einmal, daß eine einzige Urtugend Sie mühelos hinauf zum Geist bringt - heute noch! 

Beginnen Sie aber nicht damit, Heilbegehren oder Liebe erlangen zu wollen, sondern fangen Sie es einfacher an. Fragen Sie sich zunächst: Würde ich glücklich sein über den Besitz einer der Urtugenden - so glücklich, daß der Himmel in mir ist, statt daß ich dem Himmel nachjagen muß? 

Gibt es in meinem Leben nichts, was ich lieber besitzen würde als eine Urtugend? 

Spüren Sie, daß Sie warm werden bei dem Gedanken an eine der Urtugenden, das heißt, geraten Sie bei der Vorstellung ihres Besitzes in Ekstase, in Beseelung? 

Ergreift es Sie, jemand zu sein, der geistig ist - im wahren Sinne dieses Wortes? 

Kann der Gedanke an den Geist oder eine Urtugend Sie dermaßen überwältigen, daß Sie dadurch sich selbst und Ihre Probleme vergessen? 

Das ist die Frage! Bei Ihnen liegt die Antwort! 

Diese innere Erregung ist dann wie eine Beseelung, ein Wirken der Seele, und dann ist es sicher, daß diese Seele Sie mit dem Geist verbinden wird auf eine individuelle, ausschließlich für Sie bestimmte Weise: über das Erwecken einer der Urtugenden. 

Diese eine Urtugend wird dann der Strahl sein, der gerade Sie ergreifen und zum Geist erheben kann. Werden Sie darum zu einem Menschen, der sein Ziel nun unauslöschlich kennt und ihm konsequent folgt. 

Solch eine Handlungsweise wird Sie schneller verändern, als Sie jetzt noch für möglich halten!

©1970-2013 Henk und Mia Leene