Unwissenheit ist die Ursache, daß der Mensch seine eigenen Möglichkeiten nicht kennt und infolgedessen seine Zuflucht zur Imitation nimmt. Man hält es heute für selbstverständlich, daß die Vögel mehr Orientierungssinn haben als der Mensch. Aber ein naturverbundener Mensch findet seinen Ausgangspunkt auch immer wieder.
Der menschliche Organismus besitzt das Vermögen, sich allen Umständen und jeder Situation anzupassen, wenn nicht von außerhalb eingegriffen wird. Anpassungsfähigkeit ist eine angeborene Eigenschaft der Natur: das Mitgehen mit den Veränderungen in der Natur. Aber auch dieses Vermögen hat der Mensch verloren. Er bewegt sich häufig gegen die Naturgesetze und beraubt sich dadurch noch einer anderen angeborenen Gabe, nämlich des sanften Widerstandes, der keine Spannungen hervorruft.
Urwissen ist die Folge von Offenheit oder Empfänglichkeit; wenn aber etwas empfangen werden soll, ist ein Empfangsgerät erforderlich. Auch wenn der Geist etwas übertragen will, muß dafür ein Instrument vorhanden sein. Eine empfängliche Seele kann lauschen, und zwar nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem ganzen Organismus. Geistige Schwingungen dringen nämlich in den ganzen Menschen ein: seine Haut, sein Gehör, seine Augen, sein Geschmack und sein Gefühl nehmen sie auf.
Alle geistigen Schwingungen sprechen zu den sieben Wesenheiten 37) im Menschen und machen sich ihm bekannt, ohne daß dafür äußere Sinnesorgane vorhanden sein müssen.
Das Urwissen bedient sich ihrer, um dem Menschen bewußtzumachen, wer er ist. Urwissen bedeutet, sich des Geistes hinter einer jeden Form von Leben bewußt zu sein, ihn zu erfahren, zu erkennen und erfassen zu können.
Man sollte nicht sagen: "Ich muß meine Seele bewußtmachen!", sondern zunächst muß sich der Mensch der Anwesenheit seiner Seele bewußtwerden. Das Wort "Seele" sagt nicht jedem etwas.
Die Seele ist das, woraus der Mensch zu geistigem Erleben kommen kann; sie ist, wenn man die Egozentrik überwunden hat, der Kern, der den Menschen veranlaßt, den Geist zu suchen. Der Besitz einer Seele ist die Voraussetzung für die Erweckung einer der Urtugenden.
Wer sich nicht für das Seelen Prinzip in sich interessiert, sollte lieber jede spirituelle Bemühung aufgeben und sich mit äußeren Formen zufriedengeben. Der Mensch mit einer bewußten oder noch unbewußten Seele hat es im Leben immer schwerer als die Menschen, die nur aus dem Ego leben. Die Problematik ist grundsätzlich anders. Essen, Trinken und Fröhlichsein genügt dem Egomenschen, während sich der Mensch mit einer Seele nicht mit den Fleischtöpfen unserer Wohlstandsgesellschaft zufriedengibt; er verlangt mehr und auch etwas anderes.
Für seinen Nächsten ist das oft unverständlich oder wird gar für ihn selbst zum Ärgernis; dennoch bringt es ihn auf den Weg der Spiritualität. Würde er etwas vom Urwissen besitzen, dann wäre sein Sucherweg nicht so lang und bestimmt nicht so gewunden gewesen; er hätte dann nur auf eine Bestätigung dessen gewartet, was er bereits weiß. Es gibt Menschen, auch Kinder, die aus Überzeugung sagen: "Ich gehöre nicht auf diese Erde!"
Das ist ein Anflug von Urwissen.
Aus einer solchen, noch unbestimmten Erkenntnis, die dennoch unwiderlegbar ist, macht sich der Mensch oder das Kind auf die Suche nach einer anderen Welt, nach einer Region, die seine wirkliche Heimat sein könnte. Das aber ist ein Beweis dafür, daß der Rest des Urwissens verlorengegangen ist. Der Mensch vertieft sich dann in alle möglichen Hypothesen, von denen ihn jedoch keine befriedigt. Er findet die absolute Befriedigung auf Erden nicht, wie sehr sich seine sozialen Verhältnisse auch bessern mögen. Er geht von dem Wissen aus: "Ich gehöre nicht hierher!"
Deshalb sucht er Vertiefung, Erweiterung und Bestätigung dieses Wissens. So erreichen ihn alle möglichen Lehren, in denen er den Beweis für sein inneres Wissen sucht.
Das ist der aus dem Urwissen geborene Sucher. Er findet in einzelnen Lehren Anknüpfungspunkte, die ihn dann auf den Weg bringen. Sein Weg unterscheidet sich jedoch völlig von dem Weg derer, die den guten Mut, die Liebe, das Heilbegehren oder den Geistesadel suchen. Er bemüht sich, seinen eigenen Horizont zu erweitern. Er möchte ständig Grenzen sprengen, zu seinem inneren Quell durchdringen, den er vorhanden weiß, aber nicht erreichen kann.
Er ist mit seinem eigenen Lebenszustand unzufrieden, was nichts mit seiner beruflichen Stellung zu tun hat, sondern weil er weiß: "Dies alles ist Schein, Imitation!" So wächst in ihm auch eine Form des Verzichtes. Ehrgeiz besitzt er nicht; Besitztrieb kennt er nicht; Unruhe spürt er selten. Wohl aber ist in ihm ein großer Hunger und vor allem ein unersättlicher Wissensdrang, der sich mit seinen Erfahrungen immer mehr spezifiziert und schließlich nur noch spirituelle Ziele im Auge hat. So folgt er immer konsequenter bestimmten Prinzipien.
Der Mensch, der nach dem Urwissen strebt, gelangt auf den Pfaden der inneren Forschung zur Weisheit. Es ist das Forschen eines ernsthaften Kritikers, der alles, was er findet, seinem inneren Tribunal 38) vorlegt und fragt: Ist es wahr, oder ist es nicht wahr? Gerade weil er ein Fünkchen des Urwissens besitzt, ist er nach der Vereinigung mit seiner Seele imstande zur Beurteilung. Für ihn kommt dieser drängende Impuls: "Ich gehöre nicht hierher!" direkt aus seiner Seele. Niemand zweifelt weniger an seiner Seele als dieser Mensch.
Auch ein junger Mensch kann diese starke Überzeugung haben.
Er ist davon überzeugt, daß er aus mehr besteht als einem Körper. Wehe dann den Eltern, die dieses Wissen ihres Kindes nicht ernst nehmen; sie haben als Eltern ausgespielt, während das Kind irgendwo anders eine Bestätigung für sein Wissen sucht.
Dieser junge Mensch geht selbständig seinen Weg; denn ein solches Wissen macht ihn zu einem unabhängigen Individuum, einem selbständigen Wesen.
Er wird sich niemals einer Formenreligion oder eines Massenbekenntnisses verschreiben noch irgendeine Form von Sklaverei annehmen; denn er besitzt zu viel reflektierendes Vermögen, seine innere Kraft ist zu konzentriert. Er ist nicht der Mensch, der sich mit angelerntem Wissen füllt, sondern wählt sehr genau aus; er beschäftigt sich nur mit rein geistigen Lehren, ursprünglichem Wissen, das er sehr schnell herausfindet.
Häufig besitzt er einen besonderen Sinn, um gnostisches Wissen oder inspirierte Kenntnis auszugraben. Er wird direkt zum Urwissen geführt und verwächst damit. Aus sich selbst heraus kann er es erklären, ausdeuten und Brücken bauen; er braucht nichts dazuzulernen. Urwissen unterscheidet sich von intellektuellem Wissen durch seine Unbegrenztheit. Es ist nicht an bestimmte Begriffe gebunden.
Auch ist es nicht in einer bestimmten Sprache oder einem Wort festgelegt: es kann sich unter den verschiedensten Bezeichnungen bekanntmachen. Eine einzige geistige Berührung kann das Urwissen in einer Seele wecken. Weite Fernen öffnen sich dann einen Menschen, der plötzlich die Wahrheit erschaut: das Sein, das Nicht-sein, den Kosmos, sich selbst. Die natürlichen Fähigkeiten des Menschen bleiben beschränkt auf die Grenzen der Natur, aber das Urwissen steigt darüber hinaus. Das intellektuelle, spekulative, eingeschränkte Denken ist nicht in der Lage, es zu erfassen.
Dieses Urwissen wirkt mit einer anderen Urtugend zusammen: dem schöpferischen Vermögen, nicht der Vervielfältigung, sondern dem Vermögen, Bilder, Formen, Klänge und Farben aus dem Ätherfeld zu erschaffen - nicht aus dem unsichtbaren Feld unserer Erde, wie es bei schöpferischen Künstlern geschieht, sondern erschaffen aus dem geistigen Bereich, der die ganze Natur durchdringt. Solche Schöpfungen stellen etwas Geistiges dar. Erwachte Seelen erkennen diesen Geist und werden davon inspiriert.
Ein einziges Wort kann diesen Geist enthalten; er kann in einer Berührung sein. Das schöpferische Vermögen als Urtugend kann durch ein kleines Bild den Nächsten beseelen. Wer dieses Vermögen besitzt, ist immer ein großer Beseeler, ein Erneuerer von Seelen, der auch gebrochene oder kranke Seelen heilt. So können wir sagen: das Urwissen sucht den Geist, während das schöpferische Vermögen diesen Geist ausstrahlt. Diese Urtugend ist dadurch eine der schönsten und göttlichsten, also wirksamsten für Welt und Menschheit.
Das schöpferische Vermögen bahnt seinem Besitzer einen Weg; es spaltet die Hindernisse. Staunend kann man beobachten, wie unbeirrt die Menschen, die ein Fünkchen davon besitzen, ihren Weg-nach-oben quer durch alle Widerstände finden. Sie verfügen nämlich über einen inneren, unaufhörlich fließenden Quell. Es scheint, als ob sie niemanden als Halt nötig haben, sondern im Gegenteil für andere zum Wegweiser durch das Chaos der Gegensätze werden.
Erschaffen heißt, etwas herzustellen, was vorher nicht vorhanden war: Bilder und Gleichnisse zu erschaffen, die dem Menschen das Geistige oder Vollkommene bringen, ihn das Unglaubliche sehen lassen!
Nichts ist nämlich unglaublich! Der Glaube des Menschen ist nur zu klein. Wer könnte eingrenzen, was "glaubwürdig" ist?
Der eine glaubt an Gott, der andere an materielle Dinge, und beide tun recht daran. Etwas, wovon der Mensch glaubt, daß es vorhanden sei, das ist vorhanden, wenn auch nicht materiell sichtbar, so doch sicher spirituell.
Nur die intellektuelle Wissenschaft glaubt nicht, sondern ordnet "Fakten", die die äußeren Sinnesorgane, wenn auch heute unterstützt durch feinste Instrumentarien, wahrnehmen können. 39)
Für die Seele sind alle Erfahrungen des Geistes eine unumstößliche Wahrheit; sie glaubt daran, weil sie sich selbst dadurch verändert oder berührt oder ermahnt fühlt.
Die Psyche des Menschen - einige sagen Seele, andere Geist - ist der wahre Kern des Menschen, um den sich der Körper mit seinem organischen Denken und Fühlen bildet. Aber von dieser Psyche gehen auch Kräfte aus, die viel stärker als irgendeine organische Macht sind. Diese Kräfte beeinflussen den Körper, indem sie die Tätigkeit der Organe behindern oder fördern.
Das hat die ärztliche Wissenschaft bestätigt, die von psychosomatischen Erscheinungen spricht.
Aber die Psyche selbst ist ungreifbar. Sie ist nicht der Kern des Ego oder der emotionelle Motor, mit dem sich die Psychiater beschäftigen. Die Psyche ist das im Menschen, was hier auf Erden keine Heimat hat. Ob sich nun der spirituelle Sucher über seine Fremdlingschaft auf Erden ärgert oder sich dadurch in seinem Egotrieb behindert fühlt, oder ob er sich über seine sensible Psyche freut, ist absolut nebensächlich; denn diese Psyche wählt doch ihren eigenen Weg.
Es gibt Menschen, die meinen, daß das Ego dieser Psyche Gesetze vorschreiben könne; doch das ist ein Irrtum. Jedes Ego, das sich in der Lage wähnt, der Psyche Vorschriften zu machen, hat in Wirklichkeit die Psyche noch nicht erreicht.
Dennoch liegt die wirkliche Macht des Menschen in dieser geheimnisvollen Psyche, dem kleinen Überbleibsel an Unirdischem, das er noch besitzt und entheiligt hat oder auch wieder heiligen will.
Ein Mensch, der seinen Halt im Leben verloren hat, kennt den Unterschied zwischen Tugend und Untugend nicht mehr. Seine Psyche kann ihn weder führen noch verführen; sein natürlicher Organismus als Instrumentarium der Psyche ist gestört. Ein von der Seele inspirierter Mensch kann sein Gleichgewicht nicht verlieren, weil die "kleine Kraft" 40) über ihn herrscht.
Es gibt Sucher, die sagen: "Wenn ich die Gnosis nicht kennengelernt hätte, beginge ich Selbstmord!"
Eigentlich aber sollten sie sagen: "Wenn ich mir dieser kleinen Kraft und der gewaltigen Größe, zu der sie gehört, nicht bewußt geworden wäre, dann würde mir das irdische Leben nichts bedeuten!"
Innere Sicherheit kennzeichnet den Gnostiker als den Bekenner des inneren Wissens; denn ein Gnostiker ist der potentielle Träger von Urtugenden.
Ein Gnostiker trägt als Anlage alle Urtugenden in sich, weshalb sie ihn alle ansprechen. Er möchte gern den guten Mut besitzen, um seine Wankelmütigkeit zu überwinden. Er möchte die Liebe haben, um seine Seele auf der Basis der Freiheit wieder mit dem Geist zu verbinden. Er möchte das Heilbegehren erwecken, weil es ihn aus der Verwirrung der Verführungen erlöst. Er möchte den Geistesadel besitzen, um unantastbar zu sein, und er möchte das Urwissen ergründen, um seinen Brüdern und Schwestern den Weg zu erleuchten.
Er sieht jedoch ein, daß er nicht alle Urtugenden besitzen kann, und weiß auch, daß ein einziger Sonnenstrahl ihn bereits zur Sonne des Geistes führt. So wird er ein ausgesprochen gnostischer Mensch, der eine einzige Urtugend allumfassend vergegenwärtigt. Eine Urtugend bedient sich immer der natürlichen Veranlagung des Menschen, weil dann weniger Widerstände zu erwarten sind. Dann wird die spezifische Art dieses Menschen heilig. Tugend und Untugend schwächen sich ab, obwohl sie eindeutig erhalten bleiben, solange der Mensch auf Erden lebt; denn sie bilden seine irdische Persönlichkeit.
Das Fundament des natürlichen Instrumentariums auf Erden ist zweipolig aufgebaut: auf Tugend und Untugend, deren rhythmische Auf- und Abbewegung den Bereich der Natur instand hält, aber sie sollten sich nie bekämpfen. Versuchen Sie darum niemals, eine ausgesprochene Untugend, über die Sie sich vielleicht ärgern, auszurotten, sondern stärken Sie die dazugehörige Tugend, und lassen Sie dadurch Ihre Untugend schwächer werden, in den Schatten treten. Eine starke Untugend heißt, daß die ausgleichende Tugend schwach ist. Ein natürlich gesunder Mensch mit einem normalen Ego hält Tugend und Untugend im Gleichgewicht. So wie jeder Mensch ein bestimmtes Maß an Schlaf haben muß, um den Tag durchhalten zu können, so braucht er auch sein Maß an Tugend und Untugend.
Untugend ist eine positive, Tugend eine negative Eigenschaft.
Tugend entsteht aus Empfänglichkeit, Untugend aus Verschlossenheit. Ein Mensch, der sich damit entschuldigt, ein Mitmensch habe ihn zur Untugend verleitet, kennt sich selbst nicht: diese Entschuldigung hat schon bei Adam im Paradies nicht gezählt!
Die größte Untugend ist die Willenlosigkeit gegenüber der Tugend; doch sie ist keine Entschuldigung für falsches Handeln.
Es ist aber möglich, daß derselbe Mensch in anderer Beziehung sehr willensstark ist. Jeder Mensch ist für sein eigenes Leben, seine Umstände, sein Handeln verantwortlich. Das Ego ist ein Teil für sich, ein selbständiger Kern. Verliert es diese Selbständigkeit, dann ist es unausgeglichen, krank oder von Untugenden überwuchert.
Ein spirituell feinfühliger Mensch wird daher in erster Linie danach trachten, den Unterschied zwischen Tugend und Untugend in sich zu ergründen, seine Feigheit und seinen Mut, seine Schwäche und seine Kraft kennenzulernen. Wenn er weiß, wie er zusammengesetzt ist und außerdem die eingeborene Sicherheit der Seele besitzt, braucht er niemals zu fürchten, daß sein spiritueller Weg mißlingen könnte.
Die "kleine Kraft" wird sich an ihm beweisen, und wenn er daran glaubt und sich von ihr führen läßt, wird er feststellen, daß alles, wonach er verlangt, wirklich verlangt, auf ihn zukommt. Sie wird sich ihm immer wieder neu erweisen, ihn erfrischen und ermutigen wie lebendiges Wasser und ihn als eine leuchtende Aurora beseelen, die ihn unwiderstehlich anzieht.
Dann wird er seine natürlichen Grenzen überschreiten und zu einem geistigen Menschen werden, der weiß, wo sein Vaterhaus ist.
Er wird voller Freude die Sprache der Alchemisten bestätigen und ausrufen:
Lux Roseae Crucis, ich kenne dich, mein Herr! 41)